Bibi – Leben eines kleinen Mädchens – Band 2: Bibis große Reise

Band 2: Bibis große Reise
Herzlich willkommen in Bibis Welt. Bibi ist ein kleines Mädchen mit blauen Augen, blonden Zöpfen und langen, dünnen Beinen. Sie lebt in Dänemark bei ihrem Vater, der ein angesehener Bahnhofsvorsteher ist und den Bibi über alles liebt. Bibi folgt nicht immer, aber wenn sie nicht folgt, dann hat sie einen guten Grund dafür. Sie will alles selber lernen und nicht nur in den langweiligen Büchern lesen. ”Eine ganze Stunde lang still sitzen…, da musst du weglaufen, sonst stirbst du.” Im ersten Band hat Bibi ihre Großeltern kennengelernt, im zweiten Band schließt sie nun auch Freundschaft mit ihnen und begleitet die Großeltern auf einer Reise durch Berlin, Waldenburg, Heidelberg, in den Schwarzwald, Kreuznach, Dornburg sieht wir man Glas macht und Edelsteine schleift und besucht eine deutsche Schule, die ihr sogar gefällt.

Für Eltern:
In Skandinavien wird die Figur der Bibi als eine der Inspirationen zu Astrid Lindgrens (1907 – 2002) Pipi Langstrumpf gesehen. Während Pippi eine Welt erfindet, in der alle anderen sich mit ihr zurechtfinden müssen, erleben wir Bibis Abenteuer in der realen Welt, und wie sie damit zurechtkommt, ohne dabei ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Trotzdem sind beide unglaublich mutige Mädchen, die die Fähigkeit haben, alles in ihrer Umgebung auf den Kopf zu stellen. Ein Wunsch von vielen, der derzeit wohl nur im Roman zu verwirklichen ist.

Name der Autorin: Karin Michaëlis (1872 – 1950)
Bibi – Leben eines kleinen Mädchens
Band 2: Bibis große Reise
Herausgeber und Vorwort: Thomas Horwath
Illustration & Cover: Judith Reßler
http://www.judithressler.at/
ISBN – 978-3-903037-42-7

Leseprobe:

Bibi – Leben eines kleinen Mädchens

Band 2: Bibis große Reise

von Karin Michaëlis
Illustration: Judith Reßler

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel – Der Herbst kommt
2. Kapitel – Bibi bekommt einen schlimmen Brief
3. Kapitel – In Lebensgefahr
4. Kapitel – Berlin
5. Kapitel – Das Geheimnis
6. Kapitel – Katzenstieg
7. Kapitel – Bibi besucht Gerhart Hauptmann
8. Kapitel – Weihnachten
9. Kapitel – Im Riesengebirge
10. Kapitel – Bibi ist böse
11. Kapitel – Nur eine Erkältung
12. Kapitel – Waldenburg
13. Kapitel – Bibi macht Bekanntschaft mit Goethe
14. Kapitel – Bibi sieht, wie man Glas macht
15. Kapitel – Ein Mann mit einem ganz großen Kunststück
16. Kapitel – Bibi staunt abermals
17. Kapitel – Bibi sieht Bilder von anderen Leuten
18. Kapitel – Auf einer deutschen Schule
19. Kapitel – Bibi will Chinesisch lernen
20. Kapitel – Heidelberg
21. Kapitel – Pfingsten!
22. Kapitel – Im Schwarzwald
23. Kapitel – Bibis Stadt
24. Kapitel – Singende Tage
25. Kapitel – Salinen und Mandolinen
26. Kapitel – Zu Edelsteinen eingeladen
27. Kapitel – Dornburg
28. Kapitel – Noch einmal in Berlin
29. Kapitel – Die Begegnung
30. Kapitel – Bibi geht auf See

Liebe Bibifreundinnen,
liebe Bibifreunde und solche, die es noch werden,

es macht mir großen Spaß, in alten Buchhandlungen nach Büchern mit verborgenen Schätzen zu suchen. Meistens sind diese Bücher in einer so alten Schrift geschrieben, dass diese heute nur noch schwer zu entziffern ist. Mit diesem Buch ist es mir gelungen, einen Schatz zu finden, der schon fast 100 Jahre lang darauf gewartet hat, wiederentdeckt zu werden. Dieser Schatz ist nicht aus Gold und Silber, er besteht aus den Geschichten und Ideen, die in diesem Buch – Bibis große Reise – von Karin Michaëlis aufgeschrieben worden sind. Und es ist schon der zweite Band. Ich denke, dass Karin viel von dem, was sie als Kind erlebt hat oder gerne erlebt hätte, Bibi in ihren Büchern erleben lässt. Beim ersten Lesen hatte ich eine so große Freude, dass es mir ein dringendes Bedürfnis geworden ist, daraus ein modernes Buch – ein E-Book – zu machen, um diesen Schatz nun mit allen Lesern und Leserinnen teilen zu dürfen.

Wir wissen alle, dass die Rechtschreibung sich hin und wieder ändert und das, was gestern richtig war, ist dann morgen ein Fehler und umgekehrt. Ich habe mich bemüht, die Schreibweise aus der Entstehungszeit des Buches so genau wie möglich zu übernehmen. Vor ca. 100 Jahren hat man ein paar Worte anders geschrieben, die ß/s/ss – Schreibung war beispielsweise ganz anders und im Buch findet ihr noch einige andere Beispiele mehr. Ich will jetzt nicht sagen, dass es falsch ist, denn damals war es ja richtig, ich möchte gerne sagen: Es ist zu einer Buchstaben-Zeitreisemaschine geworden.

Bibi schreibt in den Büchern viele Briefe an ihren Paps. Nachdem es Bibi mit der Orthografie (Rechtschreibung) nicht ganz so genau nimmt, weil sie viel besser Zeichnen als Rechtschreiben kann, denke ich, es ist in Bibis Sinn, wenn ich sage: „Wer Rechtsschreibveler findet der darff sie auch behalden.” Karin meinte dazu, dass es oft so ist, dass jemand, der zu einer Sache hervorragend taugt, in einer anderen gar nicht gut ist. Das können erwachsene Leute nicht verstehen, aber Kinder können es, denn Kinder verstehen alles viel besser als Erwachsene. (Karin Michaëlis – Bibi: Kapitel 3 – Bibi geht auf Fahrt).

Ich weiß, was ich selber gut kann; ich kann gut Schätze in alten Büchern finden, denn jeder hat etwas, was er oder sie besonders gut kann. Und wenn wer was nicht kann, der kann das ja immer noch lernen.

Im Originalbuch gibt es viele Zeichnungen von Hedwig Collin, die fehlen hier. Wer mag, der kann mir eine Zeichnung zu dem schicken, was er oder sie in dem Buch gelesen hat und wenn einige Bilder zusammenkommen, dann machen wir daraus eine kleine Bibigalerie.
https://www.dieerzaehlwerkstatt.at/

Früher wurden auch einige Wörter gesagt und geschrieben, die man heute nicht mehr sagt, weil sich Menschen dadurch schlecht behandelt fühlen oder weil sie beleidigend sind, und weil es gemein ist, andere Menschen so zu nennen. Weil wir inzwischen zum Glück alle gelernt haben, dass man einige Wörter nicht mehr sagt, hab’ ich diese Worte einfach ausgetauscht, in welche die nicht wehtun.

Nachdem ich das erste und das zweite Bibi-Buch gelesen hab’, habe ich die kleine Schwester vermisst, von der ich immer wusste, dass sie einmal da sein würde, die ich im echten Leben aber nicht habe.

Ich wünsch Euch ebenso viel Freude beim Lesen der Bibi-Bücher, wie ich es hatte.

Liebe Grüße
Thomas Horwath

PS: Ich hab’ natürlich auch in Bibis zweitem Abenteuer eine Lieblingsstelle im Buch – die müsst ihr auf jeden Fall gelesen haben, auch wenn ihr das Buch nicht kauft:
Es wurde soviel gelacht und gescherzt bei Tisch, daß Jan und Simson sich von innen her in die Backen beißen mußten, um nicht mitzulachen, und mitlachen darf ja ein Diener nicht. Das war etwas, was Bibi niemals richtig verstehen konnte. Soviel war sicher: wenn sie einmal Klinteborg bekam, dann sollten Jan und Simson mit am Tisch sitzen und mitlachen dürfen.”
(Karin Michaëlis – Bibis große Reise: Kapitel 2 – Bibi bekommt einen schlimmen Brief)

1. Kapitel – Der Herbst kommt

Als wir zuletzt von Bibi hörten, lag sie in dem herrlichen vergoldeten Bett oben in dem Zimmer ihrer Mama, in das sie vorher nie hineingedurft hatte, und das immer abgeschlossen gewesen war. Aber Bibi war doch außen an der Mauer – ihr erinnert euch sicher noch an ihr „großes Kunststück” – hinaufgeklettert, um durchs Fenster hineinzusteigen, war heruntergefallen in den Schloßgraben und hatte sich dabei ziemlich arg zugerichtet. Da hatten die Großeltern doch genug und gaben nach. Sie schenkten ihr das ganze Turmzimmer mit allem, was darin war, nur damit sie wieder froh würde und bei ihnen bliebe.

Nun kennt ihr ja Bibi gut genug, um zu wissen, daß sie nie und nimmer daran dachte, für immer von ihrem Vater fortzubleiben. Wenn ich Klinteborg erst auswendig kann, schrieb sie ihm, dann komm ich bestimmt nach Hause, denk ich. In ihrem Innern, da wo man seine kleinen Geheimnisse bewahrt, war sie fest entschlossen, höchstens bis Weihnachten zu bleiben und nicht eine Stunde länger. Paps am Weihnachtsabend allein lassen, ohne seine Bibi – nein, das gab’s nicht.

Ihre Großeltern, der alte Graf und seine Frau, furchtbar kluge Leute (wenn man bedenkt, wie alt sie waren), zerbrachen sich den Kopf darüber, wie sie es nur machen sollten, um Bibi dazu zu bringen, daß sie dabliebe. Sie dachten, wenn Bibi alles bekäme, worauf sie nur mit dem Finger deutete, daß sie es damit erreichen könnten. Und so fingen sie an, Bibis Wünsche zu erraten und sie zu erfüllen, bevor sie sie noch ausgesprochen hatte. Aber glaubt ihr, daß das etwas genützt hätte?

Bibis Vater, der Stationsvorsteher, hatte sie so lieb, daß er gar nicht an sich selber dachte und nicht daran, wie allein er war ohne sie. Nur daran dachte er, was für sie das Beste sei. Und da sie ja nun einmal Klinteborg erben sollte, so meinte er, es sei am besten, wenn sie das Leben dort richtig kennenlerne. Er wußte, er brauchte nur zu schreiben: Wärst du doch bei mir dann würde sie sich spornstreichs in den Zug setzen und kommen. Darum schrieb er nicht, daß er Sehnsucht nach ihr hatte. Er schrieb lauter vergnügte Briefe, daß es ihm ausgezeichnet gehe, und daß sie bleiben solle, wo sie sei, und sie solle ihm nur lange Briefe schicken und viele Zeichnungen von allem, was sie erlebe.

In Wirklichkeit ging es ihm gar nicht gut. Denn es kann einem nicht gut gehen, wenn man die ganze Zeit Sehnsucht hat. Schließlich wird man krank davon, und das wurde er auch; aber das bekam Bibi erst viel später zu hören. Und als sie es endlich erfuhr, da – – aber davon können wir jetzt noch nicht reden, sondern erst dann, wenn der richtige Augenblick dafür gekommen ist.

 

Endlich wurde Bibi wieder gesund. Sie war nur etwas dünner geworden von dem langen Kranksein. Als sie wieder aufstehen durfte, fingen die Blätter an, von den Bäumen zu fallen. Der Herbst war gekommen. Tagsüber war ja noch Sonne genug – wenn Sonne da war –, aber gegen Abend legten sich die kalten Nebel auf Felder und Wiesen, so daß die Kühe im Stall bleiben mußten, wenn sie nicht Husten und Lungenentzündung bekommen sollten.

Bibi hatte den alten Schweizer (so nennt man den Stallmeister für die Kühe), der das Gnadenbrot auf dem Hof bekam und nicht mehr zu arbeiten brauchte, dazu gebracht, den Kühen Mundharmonika vorzuspielen. Die Leute konnten reden und lachen, soviel sie wollten, und sagen, daß es Blödsinn sei – es bleibt doch wahr, daß bei den Kühen nach frischem Klee und Sonnenschein gleich die Musik kommt. Bibi, die es von Romö her wußte, hatte es ja sofort erzählt, als sie nach Klinteborg gekommen war, aber niemand hatte ihr glauben wollen, niemand außer dem alten Schweizer. Aber was wollen wir wetten, daß die beiden noch einen regelrechten Triumph feierten, als – jawohl! – auf einmal alle Kühe mehr Milch gaben, als sie vorher taten!

Der alte Schweizer ging im Stall auf und ab und blies auf seiner Mundharmonika, wenn er nicht gerade seinen Kautabak im Munde verschieben oder einmal weit ausspucken mußte. Manchmal blieb er stehen und blies ganz dicht bei den Ohren von einer Kuh; dann konnte man deutlich sehen, wie das der Kuh behagte – so wie es einer kleinen verwahrlosten Katze wohltut, wenn man sie streichelt.

Bibi hatte mächtig zu tun auf dem Gut mit Inspizieren. Das ist ein schwieriges Wort, aber es gehört nun einmal dazu, und es bedeutet, daß man herumläuft und nachsieht, ob alles so ist, wie es sein soll. Mit Vorliebe besuchte sie die Hühner in ihren weitläufigen Hühnerställen, wo Bibi zum ersten Male sah, daß man die Hühner durch elektrisches Licht aufmuntert, sobald die Tage anfangen, kurz und dunkel zu werden. Die Hühner hielten das wohl für eine Art Wintersonne. Und über jedes Huhn wurde ein Tagebuch oder Wirtschaftsbuch geführt, indem man gleich sehen konnte, wieviel Eier es gelegt hatte von der Geburt an.

Bibi besuchte auch die Schweine und die kleinen Ferkel, bei denen es so rein war, daß man vom Fußboden hätte essen können. Aber eines schönen Tages wurde sie geradezu wütend, denn da kam ihr der Gedanke, daß es eine Schmach und Schande war, die kleinen Ferkel auf dem nackten Steinboden herumlaufen zu lassen, selbst wenn der Steinboden noch so sauber und blank war. Man muß sich vorstellen, was es heißt, mit bloßen kleinen Schweinepfoten auf dem harten, kalten Steinboden herumzulaufen! Bibi schimpfte und schimpfte, daß es nur so eine Art hatte; denn das konnte sie, wenn es darauf ankam. Ihr Großvater gab ihr recht, und im Nu wurde es anders: die Ferkel bekamen jetzt Streu auf den Boden. Wie die sich da freuten und sich herumtummelten im Stroh, statt immer von einem Bein aufs andere zu treten, um sich nicht die Pfötchen zu erfrieren!

Bibi stapfte auch über die umgepflügten Felder, im Gummimantel und mit Schaftstiefeln bis an den Leib hinauf, zusammen mit dem Verwalter oder dem Gutsinspektor, um zu besprechen, was im nächsten Jahr gesät werden sollte. Sie hatte soviel zu tun, daß ihr kaum Zeit übrigblieb für die Unterrichtsstunden; und außerdem langweilte es sie, dazusitzen und englisch und französisch zu reden, was weder die Kühe verstanden noch die Pferde noch Jens Storch noch sonst jemand, außer höchstens den Großeltern, der englischen Miß und der französischen Mademoiselle, die Bibi jetzt noch bekommen hatte. Aber es mußte ja sein, und mit einem tiefen Seufzer, der bis in die große Zehe hinunterging, trollte sich Bibi in ihre Stunden.

 

Die Blätter fielen und fielen. Bald waren keine mehr übrig außer auf den Buchen, die ihre alten Blätter behalten, bis die neuen herauskommen. In Klinteborg fing man an, in den großen offenen Kaminen zu heizen, mit gewaltigen Holzscheiten, die man nur mit Mühe auf den Eisenrost hinaufbekam. Aber das Kaminfeuer war gemütlich und duftete gut.
In diesem Jahr kam der Winter viel früher, als der Winter eigentlich kommen darf. Eines Morgens war alles weiß, und der Himmel hatte die gelbe Farbe, die bedeutet, daß er noch ganz voll von Schnee ist. Bibi fand das herrlich. Je mehr Schnee, desto besser.

Der Großvater ließ den altertümlichen Schlitten, bei dem die Vergoldung nur noch halb zu sehen war, herausziehen, und sie fuhren zu zweit spazieren, eingehüllt in die Wolfspelze, mit Fausthandschuhen und in Mützen mit Ohrenklappen gegen die Kälte. Die Pferde sahen aus, als ob sie weiße Spitzendecken hätten, aus Schneeflocken gehäkelt. Das ganze Sattelzeug war dicht besetzt mit winzig kleinen Glöckchen, die immer tingelten. Bald sauste man durch den Wald, der von oben bis unten weiß von Schnee war, und wo die jungen Tannen sich duckten wie Zwerge mit Mehlsäcken auf dem Rücken; oder über Lichtungen, wo das Damwild durch den knietiefen Schnee sprang. Bald fuhr man durch stille Dörfer, die nachTorfrauch rochen und nach Misthaufen und frisch gemolkener Milch. Manchmal brach die Dunkelheit herein, und bald darauf stachen die Sterne Löcher in den Himmel, und der Mond rollte wie ein Messingdeckel über dem Wald dahin. Bibi fand das wunderschön und traurig zugleich. Traurig, denn nun saß Paps allein in der Wohnung in seinem Bahnhof – und wunderschön, wenn sie daran dachte, daß genau so der Großvater mit ihrer Mama gefahren war, als diese noch ein kleines Mädchen war. Großvater bekam rote Backen und blanke Augen von der Kälte, und kleine Eiszapfen wuchsen ihm von seinem Schnurrbart herunter.

Und dann bog der Schlitten in die lange Platanenallee ein, glitt über die Brücke und hinein in den Schloßhof. Da brannten die alten Laternen; der Wächter, der auf sie achtzugeben hatte, war ein bißchen schläfrig geworden vom langen Warten. Die Diener kamen die Treppe heruntergelaufen, hoben Bibi aus dem Schlitten heraus und trugen all die schweren Pelzdecken ins Haus.

Drinnen im Schloß in den hohen, stillen Zimmern duftete es nach den Blumen aus den Treibhäusern und nach den vielen Wachskerzen. Großmutter wollte weder Gas noch elektrisches Licht in den Zimmern haben, sondern nur Wachskerzen. Die brannten mild und feierlich wie in der Kirche am Weihnachtsabend. Nach Tisch, wenn Miß und Mademoiselle hinauf in ihre Zimmer gegangen waren, setzte Großmutter sich ans Klavier und spielte und sang all die Lieder, die sie früher mit Bibis Mama gesungen hatte. Großvater stand am Flügel und sah die Großmutter an, als ob er dächte: Du bist die Herrlichste auf der ganzen Welt! Obwohl sie doch weiße Haare hatte und schon schrecklich alt war.

Wenn Großmutter mit Spielen und Singen fertig war, siedelte sie an den kleinen französischen Tisch über, der drei Bronze-Kraniche an Stelle von Füßen hatte. Und nun kamen die Spielkarten zum Vorschein. Großmutter kannte einundzwanzig Patiencen (das ist eine Art von Geduldspiel mit kleinen Karten, das man allein spielt; patience heißt ja Geduld); aber sie brachte es niemals fertig, daß alle an einem Abend aufgingen. Denn noch bevor sie halb durch war, war der Abend vorüber.
Großvater tat so, als ob er Patiencelegen verachtete. Er machte sich nur daraus etwas, in den schwierigen Büchern zu lesen, die Philosophie und so ähnlich hießen, und besonders in denen von einem Mann, der etwas gefunden hatte, was kein Mensch verstehen konnte – wenigstens in den nächsten hundert Jahren noch nicht. Aber das fand Bibi komisch von Großvater, daß er Großmutter niemals in Ruhe lassen konnte; immer mußte er hingehen und ihr gute Ratschläge geben und die Karten anders legen oder sie schelten, weil sie gemogelt hätte. Und Großmutter mogelte bestimmt nicht; sie sagte selbst, daß sie den Karten nur ein bißchen nachhelfe, damit die Patiencen leichter aufgehen konnten. Wenn der Großvater aber doch stehenblieb und sie störte, schlug sie ihm vor, Zank-Patience mit ihr zu spielen, die einzige Patience, die man zu zweit spielt. Großvater pflegte dann durch die Nase zu prusten, und das klang, als ob er das größte Opfer brächte; aber Bibi merkte gut, daß er hochentzückt war.

Und dann fingen sie also an, sich zu zanken – uih, wie die zanken konnten! Wenn man es nicht besser wußte, konnte man glauben, daß es ihnen ernst wäre. Großvater konnte so böse werden, daß er die Karten hinwarf und auf den Tisch schlug, daß er beinahe umfiel: nicht eine Sekunde länger spiele er mehr mit, wenn sie ihn weiter so ins Gesicht hinein bemogele! Aber Großmutter schaute ihm nur in die Augen und lächelte; da beugte er sich nieder, küßte ihr die Hand, und sie waren wieder gute Freunde.

Unterdessen saß Bibi in der Nähe, schrieb einen Brief an Paps oder kramte in ihren Buntstiften und versuchte alles zu zeichnen, was sie auf der Schlittenfahrt gesehen hatte. Die Bäume, die aussahen wie Zwerge mit Mehlsäcken auf dem Rücken, den Rauch gegen den Abendhimmel, der blaßrot oder hellgrau oder schmutziggelb war, oder das Damwild, das durch den hohen Schnee sprang. Dazwischen versuchte sie auch Großvater und Großmutter zu zeichnen, zum Beispiel so, wie es aussehen mußte, wenn sie in den Himmel kamen und Zank-Patience spielten; wie die Engel dann herumflogen und sich gegenseitig mit den Flügeln wegpufften, um besser zusehen zu können.

Wenn die Uhren in all den Zimmern neun Uhr schlugen, legte Großmutter die Karten wieder zusammen, die Kammerzofe stand schon unter der Tür mit dem großen Leuchter in der Hand, um die Turmtreppen hinaufzuleuchten, und nun gingen Großvater und Großmutter mit hinauf, um zu sehen, daß Bibi gut ins Bett kam. Manchmal kam es vor, daß Großmutter auf dem Bettrand sitzen blieb, und wenn Bibi sie dann ein wenig auszufragen begann, konnte es wohl geschehen, daß Großmutter anfing, von Bibis Mama zu erzählen, all die lieben Geschichten, die es zu erzählen gab. Bibi sah deutlich ihre Mama vor sich, wie sie den Ziegenbock mit hinaufnahm ins Zimmer, und wie er sich ins Bett legen und neben ihr schlafen durfte. Oder wie sie eine Bruthenne mitten auf den Lehnstuhl setzte und Großmutter gar nicht begreifen konnte, wo die vielen Flöhe herkamen. Oder wie Mama mitten in der Nacht in den Stall hinunterschlüpfte, um einem Schaf zu helfen, sein kleines Schäflein zur Welt zu bringen. Oh, Bibi hatte ihre Mama so lieb! Und wenn Großmutter von ihr erzählte, war Bibi nahe daran, auch sie lieb zu haben. Wenn Großmutter nur nicht die gräßliche Manier gehabt hätte, mit der Kammerjungfer so zu sprechen, als ob sie sie überhaupt nicht sähe, und ohne jemals auch nur ein wenig dabei zu lächeln.
Bibi schlief ein, noch bevor die Großmutter gegangen war. Und wenn sie erwachte, wunderte sie sich darüber, daß ihre Mama, von der sie gerade so wunderschön geträumt hatte, nicht hier saß und auf der Harfe spielte. Aber wenn Bibi an den rostigen Saiten zu zupfen versuchte, klang es so traurig, als ob sie darüber weinten, daß Mama tot war und begraben lag auf dem Kirchhof in Ribe.

2. Kapitel – Bibi bekommt einen schlimmen Brief

Das war ein Winter! Niemand hatte jemals von solch einem Winter gehört. Die alten Leute glaubten, das sei der Anfang vom Weltuntergang. Sie humpelten zur Kirche, um dem lieben Gott gut zuzureden und mit ihm darüber zu feilschen, ob er nicht noch ein halbes Dutzend Jahre warten könne mit dem Weltuntergang, bis sie rechtschaffen unter die Erde gekommen seien. Aber in der Kirche war es so kalt, daß sie Gicht und Husten bekamen; darum blieben sie dann wieder zu Hause und setzten sich in den Kuhstall, denn da war es immer angenehm warm und gut.

Die Vögel, die in den großen schönen Käfigen in den Treibhäusern von Klinteborg saßen, merkten ja nichts vom Frost. Aber draußen auf den Feldern fielen die Hasen und die kleinen Vögel tot um vor Hunger und Kälte. Und als Bibi hörte, daß die Wildenten draußen im Eis festfroren, mitten in den Seen, wo nicht einmal jemand konnte, um sie totzuschießen (anders konnte man ihnen ja nicht helfen), da fing sie an, in ihrem Innern so zu frieren, als ob sie selbst ein kleines Vögelchen sei, das nahe daran war, zu erstarren und zu sterben. Sie gab keine Ruhe, bis sie Großvater so weit hatte, daß er alle Förster und Waldhüter das Gebiet von Klinteborg durchstreifen ließ. Sie mußten die halbtoten Vögel aufsammeln und das junge Damwild wegtragen, das im See eingesunken war und nicht mehr herauskommen konnte, und alles mit nach Hause bringen, um es auftauen zu lassen. Große Stücke Speck wurden in den Bäumen aufgehängt, Getreidegarben wurden an lange Stangen gebunden, und kleine offene Schuppen wurden gebaut, wo das Wild und die Vögel Futter finden konnten in diesem bösen, fürchterlichen Winter.

Hoch vom Norden her kamen Eisberge südwärts geschwommen, die überall Kälte entstehen ließen, wo sie hinkamen. Die Zeitungen schienen rein vergessen zu haben, über Brände oder andere Unglücke zu schreiben, so viel hatten sie über diesen Winter zu berichten, der so schlimm war, wie man es noch niemals erlebt hatte.

Großmutters jüngste Schwester Lucy war mit einem Grafen auf einem Schloß in Schlesien verheiratet. Das Schloß hieß Katzenstieg, und der Graf hatte fünf Söhne. Wenn Großmutter allein mit Bibi war, zeigte sie ihr manchmal Bilder von Schwester Lucy und ihrem Mann, der den komischen Namen Hubertus hatte. Bibi hörte gerne zu, wenn von Katzenstieg und von Tante Lucy erzählt wurde, und sie konnte nicht begreifen, warum Großmutter die Schwester in all den vielen Jahren nicht besucht hatte. Aber Großmutter schüttelte nur den Kopf und sprach von anderen Dingen, und da verstand Bibi, daß dies wohl daher kam, daß Großmutter sich überhaupt aus nichts in der Welt mehr etwas gemacht hatte, seit ihre Tochter hingegangen war und einen einfachen Stationsvorsteher geheiratet hatte und kurz darauf gestorben war.

Und damals, als Krieg war und die Leute in Deutschland nicht genug zu essen hatten, da hatten die Großeltern immerzu Eßpakete nach geschickt; also böse auf Tante Lucy konnten sie jedenfalls nicht sein. Und als Großmutter einmal einen Brief von ihrer Schwester bekam, ob sie sich nicht aufraffen könnten, an Weihnachten nach Schlesien zu fahren und Bibi mitzunehmen, da fand Bibi, daß das eine großartige Idee sei. Nur nicht zu Weihnachten, denn da wollte sie ja nach Hause zu ihrem Paps. Aber es gibt ein altes Sprichwort, das heißt: Der Mensch denkt und Gott lenkt.

Eines schönen Tages kam ein Brief an Bibi, in dem stand, daß ihr Paps – auf dem Wege nach Ägypten sei! Ihr könnt euch denken, wie Bibi zumute war, als sie diesen Brief las!

Ihr erster Gedanke war, ihren Mantel zu nehmen und was das Zeug hielt zum Bahnhof zu laufen und mit dem Zug nach Ägypten zu fahren. Aber sie war ja so verstört vom Weinen, daß sie nicht einmal den Weg nach dem Bahnhof gefunden hätte, geschweige denn nach Ägypten. So las sie den Brief noch einmal und noch einmal und dann wieder von vorne. So viele Male, bis sie ihn auswendig konnte, und als sie ihn auswendig konnte, las sie ihn noch einmal. Denn sie konnte einfach nicht glauben, daß es ernst sei. Ihr Paps konnte doch nicht so treulos sein und nach Ägypten reisen ohne sie! Was nützte es ihr, daß er schrieb, sie solle nicht weinen, sondern ein großes, vernünftiges Mädchen sein. In sechs Monaten komme er wieder zurück, wenn alles gut gehe, und dann gebe es ordentlich was zu erzählen.

Er hatte gut reden! Aber daß er einfach so seiner Wege gehen würde, einfach fort von ihr, ohne weiteres, das hätte sie wirklich nie von ihm erwartet. Niemals! Wenn sie nicht so entsetzlich traurig gewesen wäre, dann wäre sie einfach wütend auf ihn gewesen. Aber sie konnte nichts anderes als weinen, weinen und wieder weinen.

Und der Brief war so munter geschrieben, als ob es das reine Vergnügen wäre, seine Tochter allein zu lassen. Paps sagte, daß er sich sein ganzes Leben lang danach gesehnt habe, einmal nach Ägypten zu fahren und die Königsgräber zu sehen und die Pyramiden und die Sphinx und all das. Und nun treffe es sich so gut, daß er die Zeit dafür benutzen könne, während der Bibi in Klinteborg sei. Und sie solle recht fleißig und tüchtig Sprachen lernen, denn wenn man sich in der Welt umsehen wolle, so seien Sprachen das Allerwichtigste. Ohne Sprachkenntnisse sei man wie ein Blinder, der in eine Kunstausstellung komme, oder wie ein Tauber, der ins Konzert gehe. Er habe gerade jetzt so viel Geld zusammengespart, daß er die Reise machen könne. Und für ihn und Bibi zusammen würde das Geld doch nicht ausreichen. Außerdem sei Ägypten nichts für Bibi. Sie würde sich ja doch nur die Augen ausweinen, weil die Eseltreiber so häßlich zu ihren Tieren seien.

Bibi dachte nichts anderes, als daß sie nun bestimmt sofort vor Kummer sterben werde. Denn wenn ihr Paps nach Ägypten reisen konnte ohne sie, so war es sicher, daß er sich nicht das geringste mehr aus ihr machte. Es nützte nichts, daß Großvater, der auch einen Brief bekommen hatte (aber er hütete sich sehr, Bibi diesen Brief zu zeigen), alles versuchte, um sie wieder froh zu machen. Sie wollte nicht mehr froh sein, sie wollte nur noch traurig sein.

Jens Storch, den man ihr inzwischen nach Klinteborg geschickt hatte, war gerade so treulos wie Paps. Seit er in das große Geflügelhaus zu den Truthühnern und den Pfauen gekommen war, kam er sich so wichtig vor, daß er kaum mehr Zeit hatte, sich um Bibi zu kümmern. Ah, es tut doch gut zu weinen, wenn man traurig ist! Anfangs meinte Bibi, daß es ihr gelingen würde, sich totzuweinen. Aber eines schönen Tages waren die Tränen versiegt, und, ob sie wollte oder nicht: sie konnte nicht mehr weinen.

Bibis Großeltern, die viel zusammen sprachen, wenn sie allein waren, wußten um alles in der Welt keinen Rat. Bibi war so dünn geworden vom Weinen, daß man beinahe durch sie hindurchsehen konnte. Und wenn sie nun hinging und starb, wer sollte dann das Schloß erben und die Felder und Wälder mit dem Moor und den Mühlen und was sonst noch alles zu einem so großen Gut gehörte! Irgend etwas mußte geschehen, und zwar schnell.

Da kam Großvater auf den Gedanken, daß es Bibi vielleicht Spaß machen würde, einmal herauszukommen aus Klinteborg und ein wenig zu reisen. Und Großmutter hatte ja eigentlich auch Lust, nach Schlesien zu fahren und Schwester Lucy zu besuchen, die sie so lange nicht mehr gesehen hatte. Luftveränderung ist immer gut, für Alte und für Junge. Und war man erst einmal in Deutschland, so konnte man ja gut noch in ein Bad fahren, um seine Gicht loszuwerden. Warum eigentlich nicht? Die Jungens von Schwester Lucy – einer davon war ja nicht mehr in Europa, aber vier waren auch noch genug – sollten es doch eigentlich fertig bringen, Bibi wieder in gute Laune zu versetzen.

Im Anfang war es Bibi ganz gleichgültig, als sie hörte, daß man nach Schlesien reisen wolle. Aber dann fiel ihr ein, daß Schlesien ja ein bißchen auf dem Weg nach Ägypten liegt, und wenn sie nur ein wenig näher bei Paps wäre, würde es vielleicht inwendig nicht mehr so weh tun, wenn sie sich nach ihm sehnte. Und als ein paar Tage vergangen waren und Bibi sich gefaßt hatte, fing sie doch an, Lust zu etwas Neuem zu bekommen. Vielleicht gab es da unten in Schlesien etwas was sie noch nie gesehen hatte. Da waren ja Berge! Sie spürte deutlich, daß etwas in ihr gewaltig danach verlangte, auf einen Hohen Berg zu steigen. Denn je höher ein Berg war, desto weiter konnte man von ihm sehen – wenn auch vielleicht nicht ganz bis nach Ägypten hinunter, es sei denn, daß Paps im gleichen Augenblick auf der Spitze einer Pyramide stand und nordwärts schaute. Dann vielleicht …

Die englische Miß und die französische Mademoiselle reisten zurück in ihre Länder, und Bibi versprach, sie zu besuchen, wenn sie vorbeikomme. Und während sich die Großeltern an die Reisevorbereitungen machten, kam in Bibi allmählich ein Gefühl auf, wie es die Störche haben mögen, wenn sie ihre Probeflüge abhalten, bevor sie sich auf die lange Reise in die warmen Länder begeben.

Von nun an sprachen Bibi und die Großeltern nur noch deutsch bei Tisch, um in Übung zu kommen. Und Bibi bemerkte zu ihrem großen Erstaunen, daß das weder so schwer noch so langweilig war wie damals, als sie daheim in die Schule ging und im Deutschen hatte:
der Tisch,
des Tisches,
dem Tische,
den Tisch.

Nur war es so verrückt mit all dem „der, die, das”, was ja nur dazu da war, um die Sache schwer zu machen. Da war doch kein Sinn darin, daß, wenn ein Knabe, der männlich ist, richtig der Knabe hieß, daß dann ein Mädchen, das weiblich ist, das Mädchen hieß. Bibi sagte: die Mädchen; und wenn die Deutschen sie anders nannten, dann waren sie es, die es nicht richtig wußten.

Es wurde soviel gelacht und gescherzt bei Tisch, daß Jan und Simson sich von innen her in die Backen beißen mußten, um nicht mitzulachen, und mitlachen darf ja ein Diener nicht. Das war etwas, was Bibi niemals richtig verstehen konnte. Soviel war sicher: wenn sie einmal Klinteborg bekam, dann sollten Jan und Simson mit am Tisch sitzen und mitlachen dürfen. Der Winter wurde immer strenger und strenger, und alle Zeitungen waren voll von Lawinen in der Schweiz und steckengebliebenen Eisenbahnzügen in Polen und allen möglichen Unglücken, und da begann Großvater doch bedenklich zu werden. Er meinte, daß es klüger sei, noch etwas abzuwarten und das Wetter zu beobachten. Er schlug Großmutter vor, über Weihnachten in Klinteborg zu bleiben. Aber da kannte er Großmutter schlecht. Nicht einmal ein Erdbeben hätte sie zurückhalten können, nun, da sie Schwester Lucy versprochen hatte zu kommen! Da war nichts zu machen. Und wenn sie zu Fuß über die Ostsee gehen mußte – nach Schlesien wollte sie, und zwar vor Weihnachten. Bibi und der Großvater mußten laut lachen bei dem Gedanken, daß Großmutter zu Fuß über das Eis marschieren wollte. Ausgerechnet Großmutter, die ein solcher Frierpeter war, daß sie immer daunengefütterte Hemden unter dem Kleid trug und Gicht bekam, wenn sie nur einmal ohne den Pelzmantel, der bis zu den Füßen hinunterreichte, über die Treppen ging.

Natürlich setzte Großmutter ihren Willen durch, und der Tag kam, an dem alle Koffer gepackt waren und der Schlitten vor der Tür hielt. Bibi hatte ein funkelnagelneues Reisekleid mit so vielen Taschen, daß man sich in ihnen verirren konnte. Über dem Reisekleid hatte sie einen blauen Automantel aus Leder und darüber noch einen Pelzmantel, der aus einem von Mamas Mänteln für sie geändert worden war. Sie konnte zum Nordpol reisen in dieser Montur.

Bibi und der Großvater hatten ein Geheimnis zusammen, und sie hatten sich die Hand darauf gegeben, es Großmutter nicht zu verraten. Die würde doch bloß sagen, sie seien zwei große Kindsköpfe, daß sie auf so dumme Streiche verfallen konnten bei dieser Hundekälte. Im letzten Augenblick mußte Bibi herumrennen und adieu sagen, im ganzen Schloß, oben und unten, den Vögeln, den anderen Tieren und den Menschen. Zum letzten Male lief sie in den Stall und streichelte ihrem Pferd Bella das Maul und hörte noch einmal den alten Schweizer den Kühen etwas vorspielen. Sie gab ihm einen Kuß, dahin, wo er am wenigsten schmutzig war auf seiner Wange, und versprach, ihm eine Büchse von dem feinsten Kautabak in Pflaumensauce mitzubringen, wenn er aufpassen wolle, daß die Katzen wirklich frisch gemolkene Milch bekamen und nicht das, was von der Schleudermaschine beim Buttern wegspritzte; wenn er außerdem aufpassen wolle, daß die Sau nicht ihre Ferkel fraß, daß die jungen Truthühnchen gehacktes Ei und gehakte Brennnesseln bekamen, damit sie sich nicht erkälteten, daß rechtzeitig zum Tierarzt geschickt wurde, wenn eine Kuh es schwer hatte mit dem Kalben, daß niemand Jens Storch neckte, daß richtig ausgemistet wurde im Taubenschlag, daß …

Der alte Schweizer streckte drei Finger in die Luft zum Zeichen, daß er auch nicht das kleinste bißchen vergessen werde.

Der Schlitten sauste die Landstraße davon. Bibi saß da und wiederholte im stillen die deutschen Wörter, die den Dativ oder den Akkusativ regierten, oder war es der Genetiv oder noch was anderes?

Es war pechrabenschwarze Nacht, als sie in der Stadt ankamen und auf dem Bahnhof den Zug bestiegen. Bibi wollte sich um jeden Preis wachhalten. Sie hatte gehört, die Fähre über den Großen Belt sollte von Eisbrechern begleitet sein, und die Eisbrecher mußte sie unbedingt sehen und für Paps zeichnen. Aber als sie auf die Fähre kamen, war sie so furchtbar müde, daß sie sofort einschlief. Und sie schlief, bis Großvater sie weckte, aber da waren sie schon drüben. Vier Stunden Verspätung hatte die Fähre gehabt, durch das Eis. Und dann schlief Bibi wieder, bis sie bei Tagesanbruch in Kopenhagen anlangten.
Dort sprach Großvater mit Leuten, die etwas davon verstanden, und dann sagte er zu Großmutter, es sei Wahnsinn, unter diesen Wetterverhältnissen die Reise über die Ostsee anzutreten. Großmutter antwortete ganz ruhig: „Na ja, dann wollen wir eben einmal ein bißchen wahnsinnig sein. Ich reise auf jeden Fall! Ich habe an Lucy telegraphiert, und dabei bleibt es.”

Großvater schüttelte den Kopf: „Wie du willst, ich wasche meine Hände in …”

„Tu das ruhig, mein Lieber, wenn du’s nötig hast”, Jagte Großmutter.

Da mußte Großvater wieder lachen, und Großmutter hatte gesiegt. Bibi aber war selig.

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Publiziert am 01.04.2021
Name der Autorin: Karin Michaëlis (1872 – 1950)
Bibi – Leben eines kleinen Mädchens
Band 2: Bibis große Reise
Herausgeber und Vorwort: Thomas Horwath
Illustration & Cover: Judith Reßler
https://www.judithressler.at/
ISBN – 978-3-903037-42-7

Die Ausgabe dieses E-Books: Bibi – Leben eines kleinen Mädchens, Band 2: Bibis große Reise, bezieht sich auf die Originalausgabe des Herbert Stuffer Verlages – Berlin, aus dem Jahr 1929; neue Ausgabe 32.- 38. Tausend aller deutschen Ausgaben des 2. Bandes. Zur Dokumentation über die Abklärung der Rechte: Zur Dokumentation über die Abklärung der Rechte: Bitte diesen Link anklicken.