Bibi – Leben eines kleinen Mädchens – Band 3: Bibi und Ole

Band 3: Bibi und Ole
Herzlich willkommen in Bibis Welt. Bibi ist ein kleines Mädchen mit blauen Augen, blonden Zöpfen und langen, dünnen Beinen. Sie lebt in Dänemark bei ihrem Vater, der ein angesehener Bahnhofsvorsteher ist und den Bibi über alles liebt. Bibi folgt nicht immer, aber wenn sie nicht folgt, dann hat sie einen guten Grund dafür. Sie will alles selber lernen und nicht nur in den langweiligen Büchern lesen. Bibi hat in Ole einen Reisegefährten gefunden oder ist es doch mehr? Gemeinsam reisen sie durch das ganze Buch und beschließen dabei: “Die große Sache!”

Für Eltern:
In Skandinavien wird die Figur der Bibi als eine der Inspirationen zu Astrid Lindgrens (1907 – 2002) Pipi Langstrumpf gesehen. Während Pippi eine Welt erfindet, in der alle anderen sich mit ihr zurechtfinden müssen, erleben wir Bibis Abenteuer in der realen Welt, und wie sie damit zurechtkommt, ohne dabei ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Trotzdem sind beide unglaublich mutige Mädchen, die die Fähigkeit haben, alles in ihrer Umgebung auf den Kopf zu stellen. Ein Wunsch von vielen, der derzeit wohl nur im Roman zu verwirklichen ist.

Name der Autorin: Karin Michaëlis (1872 – 1950)
Bibi – Leben eines kleinen Mädchens
Band 3: Bibi und Ole
Herausgeber und Vorwort: Thomas Horwath
Illustration & Cover: Judith Reßler
http://www.judithressler.at/
ISBN – 978-3-903037-43-4

Leseprobe:

Bibi – Leben eines kleinen Mädchens

Band 3: Bibis und Ole

von Karin Michaëlis
Illustration: Judith Reßler

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel – Wieder zu Hause bei Paps
2 Kapitel – Die Klapperschlange, der Fallschirm und Nebel auf dem Meer
3. Kapitel – Die Verschworenen
4. Kapitel – Das Gespensterhaus
5. Kapitel – Bibi will wieder fort
6. Kapitel– Ein Brief, der hauptsächlich von Ole handelt
7. Kapitel – Prag
8. Kapitel – Die Geburtstagsgeschenke des Präsidenten
9. Kapitel – Die Bakulekinder
10. Kapitel – Die Karussellschuhe
11. Kapitel – Eine neue Freundin und was Bibi mit ihr sieht
12. Kapitel – Bibi verirrt sich
13. Kapitel – Die Vagabunden
14. Kapitel – Was dann weiter mit Bibi geschah
15. Kapitel – Paps bekommt nicht alles erzählt
16. Kapitel – Pistyan
17. Kapitel – Das Monument
18. Kapitel – Die Zauberhöhle
19. Kapitel – Unverdient
20. Kapitel – Die Hohe Tatra
21. Kapitel – Nur nicht erschrecken!
22. Kapitel – Bibi liest einen Brief ihrer Mama
23. Kapitel – Karlsbad
24. Kapitel – Es bereitet sich vor
25. Kapitel – Bibis großer Plan

Liebe Bibifreundinnen,
liebe Bibifreunde und solche, die es noch werden,

es macht mir großen Spaß, in alten Buchhandlungen nach Büchern mit verborgenen Schätzen zu suchen. Meistens sind diese Bücher in einer so alten Schrift geschrieben, dass diese heute nur noch schwer zu entziffern ist. Mit diesem Buch ist es mir gelungen, einen Schatz zu finden, der schon fast 100 Jahre lang darauf gewartet hat, wiederentdeckt zu werden. Dieser Schatz ist nicht aus Gold und Silber, er besteht aus den Geschichten und Ideen, die in diesem Buch – Bibi und Ole – von Karin Michaëlis aufgeschrieben worden sind. Und es ist jetzt schon der dritte Band. Ich denke, dass Karin viel von dem, was sie als Kind erlebt hat oder gerne erlebt hätte, Bibi in ihren Büchern erleben lässt. Beim ersten Lesen hatte ich eine so große Freude, dass es mir ein dringendes Bedürfnis geworden ist, daraus ein modernes Buch – ein E-Book – zu machen, um diesen Schatz nun mit allen Lesern und Leserinnen teilen zu dürfen.

Wir wissen alle, dass die Rechtschreibung sich hin und wieder ändert und das, was gestern richtig war, ist dann morgen ein Fehler und umgekehrt. Ich habe mich bemüht, die Schreibweise aus der Entstehungszeit des Buches so genau wie möglich zu übernehmen. Vor ca. 100 Jahren hat man ein paar Worte anders geschrieben, die ß/s/ss – Schreibung war beispielsweise ganz anders und im Buch findet ihr noch einige andere Beispiele mehr. Ich will jetzt nicht sagen, dass es falsch ist, denn damals war es ja richtig, ich möchte gerne sagen: Es ist zu einer Buchstaben-Zeitreisemaschine geworden.

Bibi schreibt in den Büchern viele Briefe an ihren Paps. Nachdem es Bibi mit der Orthografie (Rechtschreibung) nicht ganz so genau nimmt, weil sie viel besser Zeichnen als Rechtschreiben kann, denke ich, es ist in Bibis Sinn, wenn ich sage: „Wer Rechtsschreibveler findet der darff sie auch behalden.” Karin meinte dazu, dass es oft so ist, dass jemand, der zu einer Sache hervorragend taugt, in einer anderen gar nicht gut ist. Das können erwachsene Leute nicht verstehen, aber Kinder können es, denn Kinder verstehen alles viel besser als Erwachsene. (Karin Michaëlis – Bibi: Kapitel 3 – Bibi geht auf Fahrt).

Ich weiß, was ich selber gut kann; ich kann gut Schätze in alten Büchern finden, denn jeder hat etwas, was er oder sie besonders gut kann. Und wenn wer was nicht kann, der kann das ja immer noch lernen.

Im Originalbuch gibt es viele Zeichnungen von Hedwig Collin, die fehlen hier. Wer mag, der kann mir eine Zeichnung zu dem schicken, was er oder sie in dem Buch gelesen hat und wenn einige Bilder zusammenkommen, dann machen wir daraus eine kleine Bibigalerie.
https://www.dieerzaehlwerkstatt.at/

Früher wurden auch einige Wörter gesagt und geschrieben, die man heute nicht mehr sagt, weil sich Menschen dadurch schlecht behandelt fühlen oder weil sie beleidigend sind, und weil es gemein ist, andere Menschen so zu nennen. Weil wir inzwischen zum Glück alle gelernt haben, dass man einige Wörter nicht mehr sagt, hab’ ich diese Worte einfach ausgetauscht, in welche die nicht wehtun.

Nachdem ich das erste und das zweite und das dritte Bibi-Buch gelesen hab’, habe ich die kleine Schwester vermisst, von der ich immer wusste, dass sie einmal da sein würde, die ich im echten Leben aber nicht habe.
Ich wünsch Euch ebenso viel Freude beim Lesen der Bibi-Bücher, wie ich es hatte.

Liebe Grüße
Thomas Horwath

PS: Ich hab’ natürlich noch eine Lieblingsstelle im Buch – die müsst ihr auf jeden Fall gelesen haben, auch wenn ihr das Buch nicht kauft:
„Schön. Ich weiß ja, daß es überall eine Menge Tierschutzvereine gibt und daß sie alle gut sind, aber es sind doch immer nur Erwachsene, und Erwachsene haben meistens keine Ahnung von Tieren. Nicht die Spur von einer Idee von einer Ahnung. Oder glaubst du vielleicht, daß ein Erwachsener mit Jens Storch sprechen kann? Oder meine Kücken verstehen, wenn sie miteinander schwatzen? Glaubst du das? Ich aber kann es, weil ich nicht erwachsen bin. Und nun haben die Erwachsenen ja schon lange genug versucht, die Tiere zu beschützen, aber es hat doch nicht das kleinste bißchen genützt. Nicht einmal unser Schutzmann kann die Viehtreiber dazu zwingen, die Tiere anständig zu behandeln, wenn sie an Bord sollen. Und deshalb habe ich mir vorgenommen, daß wir das ganz anders machen:
Von nun an sollen alle Tiere der Welt unter dem Schutz von allen Kindern der Welt stehen!“
(Karin Michaëlis – Bibi und Ole: Kapitel 25 – Bibis großer Plan)

1. Kapitel – Wieder zu Hause bei Paps

Liebe Großeltern!
Bitte seid nicht so furchtbar böse auf mich sondern nur ein bißchen, denn ich kann nicht anders und lieber will ich sterben als noch einmal einen einzigen Tag von meinem Paps wegreisen so lang ich lebe. Ich werde schon bald mal zu euch kommen und euch besuchen vielleicht außer zu Weihnachten wenn ihr Weihnachten um einen Tag verschiebt, denn erst muß ich mit meinem Paps feiern, dan komm ich am nächsten Tag zu euch und wir feiern es nach. Aber Paps kann gar nichts dafür, er sagt ich hab es viel besser bei euch, da hätte ich eine gute Erziehung und hier würde ich mich doch nur herumtreiben, aber das tu ich gar nicht. Und ich will euch nur sagen, seit ich zuhause bin hab ich noch nicht einen Tag die Schule geschwänzt und jeden Tag hab ich dreimal die Nägel und die Zäne geputzt und ich bin auch schon viel besser in der Rechtschreibung.
Ich habe Paps mein heiliges Ehrenwort gegeben nie mehr in einen Fiehwagen zu steigen oder auf dem Zug obendrauf zu fahren oder bei der Lokomotive vorn, und überhaupt nicht mehr wegzufahren ohne daß er weiß wohin und in der Pause nicht mehr aus dem Fenster zu springen und nie mehr unterm Tisch jemand in die Beine zu kneifen oder Karickaturen von den Lehrern zu machen oder allein zu segeln wo ich doch vom segeln nichts verstehe. Und wenn ich mein Ehrenwort halte dann darf ich bei Paps bleiben. Ihr müßt doch auch einsehen, daß es nicht geht, daß mein lieber Paps immer halb tod ist vor Trauer weil ich so weit weg in Klinteborg bin, doch ich sehne mich auch rasend nach Mamas Zimer und nach meinem süßen Ponni und auch nach euch.

Erst war ich schrecklich wütend auf euch, weil ihr mir nicht gesagt habt, daß Paps krank in Ägypten ist, aber jetzt haben Paps und ich ausgemacht, das ich Stationsvorsteher werde. Das kann ich von ihm lernen und dann kann ich das Fähnchen schwingen und pfeifen, wenn er zu alt ist. Aber darüber braucht ihr noch nicht traurig zu sein, denn villeicht kriegen wir eine Station in der Nähe von Klinteborg. Ist das nicht eine famose Idee? Ich mag euch nämlich furchtbar gern weil ihr mit meiner lieben Mama verwandt seid, das sieht man genau auf Großmutters alten Bildern und denkt euch, als ich nach Hause kam war Jens Storch so froh daß er mir beinah die Nase abbiß. Er erkannte mich gleich wieder. Die ganze erste Nacht schlief er auf der Matte vor meinem Bett und er ist dick befreundet mit Halifax, das ist meine neue Schildkröte die Paps mir in einer grühnen Schachtel aus Ägypten mitgebracht hat, weil die von früher gestorben ist, und mit Petersil. Das ist ein Hund, den bekam ich nämlich von der Dame auf dem Schiff weil ich ihn damals im Nebel immer festhielt, und sie glaubte, daß er ohne mich gestorben wäre. Petersil ist pechrabenschwarz im Mund und einen Stambaum hat er, so fein wie ihr und der Zuchtstier. Und wißt ihr wie ich jeden Tag in die Schule gehe? Ja da werdet ihr Augen machen. Da kommen Jens Storch und Petersil einfach mit und die Schildkröte trage ich in der Mappe. Jens Storch geht dann auf die Wiesen und ich sag ihm, er soll sich nicht unterstehen auch nur einen Frosch zu essen, aber Paps sagt, das kann ein Storch nicht lassen so wenig wie ein Menschenfresser, der hört auch nicht auf mit Menschenfressen. Petersil ligt im Schulhof und wartet auf die Pausen dann spielen wir Ball mit ihm, er ist fabelhaft und fängt den Ball mit der Stirn wie im Zirkuß. Und Halifax ligt unter meiner Bank, das heißt manchmal kriecht sie auch rum aber nur ein bischen und alle bringen ihr Salatblätter mit.

Paps ärgert sich immer wenn sie im Garten ist, denn dann frißt sie die halben Erdbeeren weg, darauf ist sie ganz versessen. Und dann haben wir noch sechs Küken die hat Jensine in der Küche künstlich ausgebrühtet und deshalb sind sie ganz zahm und begleiten mich immer in die Stadt wenn ich Einkeufe oder Besorgungen mache und ihr könnt mir glauben, alle Kutscher passen auf und weichen aus wenn sie uns sehen. Aber sie dürfen nicht in die Schule. Die Küken mein ich. Fräulein Fagerlund die sonst ganz schrecklich freundlich ist, sagt man kann keine Disziplin nicht halten mit Kücken in der Klasse und da hat sie ja recht.

Seid nicht böse daß ich nicht früher schrieb aber ich mußte doch zuerst alles sehen hier zuhause, es ist so viel verändert und all die neuen Häuser wo es gebrannt hat, und die neuen Gräber auf dem Friedhof draußen und ich komme beinah gar nicht zum zeichnen vor lauter Fleiß wenn ich aber wieder Zeit habe bekommt ihr viele Briefe und viele Bilder, außer noch von meiner Reise. Auf dem Schiff war eine Dame die sprach nur Englisch denn sie war aus Amerika, aber ich verstand sie ganz gut wen sie langsam sprach und sie erzählte von was, das heißt Seelenwanderung. Das ist fabelhaft, denn wenn man stirbt wird man nachher wieder auf eine ganz neue Fasson lebendig. Einer kommt als Tier wieder und der andere als Mensch das ist verschiden je nachdem ob man einem Tier oder einem Menschen änlich sieht. Ich kenne einen Mann der hat ein Gesicht wie ein Dorsch und einen andern der sieht aus wie ein Mops und mein Turnfräulein hat lange Pferdezähne ganz wie ein alter Gaul. Gelbe Zähne. Das ist doch wirklich eine gute Religion. Die Dame sagte, wenn ich erst groß bin schenkt sie mir ein dies Buch von der Seelenwanderung. Dort steckt dann alles drin. Villeicht könnt ihr euch das Buch besorgen.

Aber jetzt paßt mal auf: wir haben einen Bund gegründet Valborg und Ulla und ich und Sigrid und Anne-Charlotte und wir heißen die Verschworenen. Wir wechseln ab und machen Wache, daß sie den kleinen Kälbchen nicht die Beine ausränken, wenn man sie zum Hafen treibt und daß sie die Schweine nicht mit den Füßen treten und wir sind immer dabei wenn die Tiere auf die Schiffe nach England kommen. Der alte Schutzmann Sörensen findet das großartig, er kann auch nicht leiden, wie man das arme Vieh behandelt. Wenn wir aber losziehen auf Ausflüge und so, dann haben wir immer knallrote Strümpfe an und knallrote Zipfelmützen, damit jeder sehen kann, daß wir sind. Und ihr könnt Gift drauf nehmen wenn ich mal im Stadtrat bin, dann ist es aus mit dem ekligen Schweineschlachten. Ich kenne auch einen Doktor, der sagt man ist 1000mal apetitlicher innen, wenn man kein Fleisch ißt. Und drei Freundinnen von mir haben schon aufgehört damit, weil sie nicht lauter Bandwürmer bekommen wollen. Aber die Großen sind eben so unvernünftig! Vorgestern zum Beispiel hat Paps seine Wollweste vergessen und Sonnabend als es in Strömen goß ging Jensine ohne Überschuhe aus. Den ganzen Tag muß ich aufpassen. Früher dachte ich, nur Kinder seien unvernünftig, aber die Erwaxenen sind es noch viel mehr die denken überhaupt nicht nach. Und nun danke ich euch noch hundertmillionen mal daß ihr so lieb mit mir ward. Ich bin sehr froh das ich euch damals in der Bahn getroffen habe sonst hätte ich euch ja nie kennen gelernt. Meine Finger sind so mit Tinte beklext daß sie kleben. Viele Grüße an alle, auch in der Küche und in den Ställen und 1000 Küsse
von eurer euch liebenden
Bibi

2 Kapitel – Die Klapperschlange, der Fallschirm und Nebel auf dem Meer

„Wer will mit zu den Störchen? Hände hoch!”

Bibi zählte nach. Ihre eigenen mitgerechnet, flogen zehn Hände in die Luft. Also konnte es los gehen. Daß Bibi noch einen kleinen Hintergedanken hatte und auch noch anderswohin wollte, ging ja niemanden was an, solange sie keine Silbe davon verlauten ließ. Hätte sie nämlich den Verschworenen gleich den Vorschlag gemacht, auch noch zu dem Gespensterhaus zu gehen, so wäre nicht eine Hand außer ihren eigenen in die Luft geflogen hatte doch selbst Ulla voriges Jahr an allen Gliedern gezittert und mit den Zähnen geklappert, als der Schornstein vor ihr plötzlich herunterkrachte. Aber wenn sie sie erst mal draußen bei den Storchnestern hatte, dann brachte sie sie sicher auch noch das kleine Stückchen weiter.

Bibi war jetzt wirklich sehr fleißig, beinahe schon verrückt fleißig. Doch es gibt ein Maß in allen Dingen, und wer nicht aus dem letzten freien Tag vor dem Examen und den Sommerferien etwas herausschlägt, der muß ja Tinte getrunken haben.
So marschieren also am Mittwoch morgen fünf langbeinige Mädels in knallroten Strümpfen und knallroten Zipfelmützen die Landstraße entlang. Drei blonde, von denen Bibi und Valborg lange Zöpfe tragen, und zwei dunkle: Ulla mit dem kurzen Haar und Sigrid, die immer die Mütze ganz schief auf der einen Seite sitzen hat. Sie haben die Röcke mit Sicherheitsnadeln aneinandergesteckt, und ihre Rucksäcke sind dick geschwollen von Butterbroten, harten Eiern, Brauselimonade und Heftpflaster für etwaige Schrammen. Sooft eine stehenbleibt, um sich die Nase zu putzen (oder etwas nicht weniger Wichtiges zu verrichten), müssen alle fünf stehenbleiben. Sooft eine müde wird und am Straßenrand ausruhen will, müssen alle fünf sich der Reihe nach setzen. Man hat sich das feierliche Ehrenwort gegeben, die Sicherheitsnadeln nicht herauszuziehen, außer wenn man an einem wilden Stier vorbeikommt oder über einen Graben muß, der nur mit Anlauf zu nehmen ist.

In der Luft oben stehen die Lerchen still und trillern. Auf der Straße unten singen fünf storchbeinige Mädels wie wild darauf los. Oder Bibi erzählt von ihrer großen Reise.

Es ist sonderbar aber wahr: Diese Reise wird, sooft sie von ihr erzählt, immer großartiger und gefährlicher. Nicht daß Bibi lügt, keine Spur. Wer so etwas auch nur anzudeuten wagte, der könnte was abkriegen, daß ihm Hören und Sehen verginge. Nein, Bibi schmückt die Dinge nur ein bißchen aus, „damit es besser klingt”, wie sie sagt. Denn sie erzählt ja nicht zu ihrem eigenen Vergnügen, sondern um die andern zu unterhalten, so wie man in der Kirche die Orgel spielen läßt, damit die Andächtigen nicht einschlafen.

Sobald Bibi merkt, daß eine der Verschworenen nicht mehr recht weiter will oder sogar etwas von Sonnenstich und Gluthitze vor sich hin brummt, hat sie gleich irgendeine Lebensgefahr bei der Hand, der sie nur mit Mühe und Not entgangen ist. So zum Beispiel die Geschichte von dem Luftschiff mit dem Fallschirm. Der Fallschirm hatte nämlich vergessen, sich auseinanderzufalten, und wenn sie nicht gerade noch das Tau erwischt hätte, das man aus dem Luftschiff schnell auswarf, so wäre sie, bums, hinuntergesaust und hätte sich auf der steinernen Brücke den Schädel zerschmettert. Wie sie sich aber mit den Händen an dem Tau hinaufzog, bemerkte sie, daß dieses an einer Stelle kaputt war und nur noch an einem einzigen Fädchen zusammenhing. Was macht man da? Sie klammerte sich mit den Beinen fest und – – band das Taschentuch um die gefährliche Stelle, wodurch sie sich das Leben rettete…

Alle hören geduldig zu. Erst als sie fertig ist, sagt Anne-Charlotte: „Bist du denn überhaupt schon in einem Luftschiff gefahren?”

Bibi denkt verdutzt nach: „Nein, eigentlich nicht, ich muß mich da geirrt haben. Aber jetzt will ich euch von der Klapperschlange erzählen, die aus ihrem Käfig im Zoo entwischt war… Alle Leute suchten wie toll nach ihr und der, der sie fand, sollte eine Prämie bekommen – ein. paar tausend Kronen! ich geh’ so vor mich hin und denke an nichts, da merke ich, daß sich was um mich zusammenrollt. Brr! Ganz eiskalt fühlte sich das an, ich dachte mir gleich, was das sein müsse. Da begann ich aber zu pfeifen: Ach du lieber Augustin! Und wißt ihr, was geschah? Sie hob den Kopf, streckte die Zunge raus und schlug förmlich den Takt dazu, denn diese Klapperschlangen sind riesig musikalisch, das hat mir mal ein Schlangenbändiger in Ägypten erzählt. Und während ich pfiff, konnte ich aus ihr heraustreten, so wie ich abends aus meinem Rock trete. Wenn mir aber das mit dem Pfeifen nicht eingefallen wäre, so hätte sie mich zerquetscht wie eine Eierschale.

Diesmal machte Valborg einen Einwand: „Du bist doch, soviel ich weiß, noch nie in Ägypten gewesen!”

„Ich nicht in Ägypten gewesen? Was fällt dir denn ein! Mein Paps war doch volle sieben Monate in Ägypten. Und mein Paps und ich, wir sind ein und dasselbe, da bin ich also so gut wie dort gewesen. Merk dir das!”

Als man kurz darauf in einer Reihe im Straßengraben saß und Lakritzen und Pfefferminz lutschte, sagte Sigrid: „Erzähl’ doch lieber von dem Zusammenstoß im Nebel, da bekommt man so eine herrliche Gänsehaut. Und außerdem ist es auch wahr, denn das hat dein Vater meinem Vater am Stammtisch erzählt.”

Und Bibi schilderte nun den Zusammenstoß im Nebel. Sie schilderte ihn so, daß ihr selbst die Haare zu Berge standen. Die kurzen Haare natürlich nur, denn die anderen waren ja fest geflochten und konnten sich aus den Zöpfen nicht herausrühren.

Aber wir wollen lieber nicht Bibi alleine berichten lassen, sondern erst einmal selber erzählen, wie es war, sonst erfahrt ihr ja doch nie die volle Wahrheit. Ihr werdet ja schon gemerkt haben, was dabei herauskommt, wenn man Bibi reden läßt.

Ihr erinnert euch doch noch, wie sie auf dem „Seestern” das Telegramm von ihrem Paps bekam. Kurz darauf passierte die Geschichte mit dem Nebel. Das heißt, von Nebel merkte Bibi zuerst gar nichts. Sie sieht nur auf einmal, daß das Wasser ganz still wird. Und warum bekommt es so eine komische Farbe? Es sieht ja aus wie Zinn! Warum schmeckt die Luft plötzlich so anders, so fad und naß? Und plötzlich wird alles ganz lichtgrau, wie wenn man durch den Dampf einer Lokomotive schaut, und dann wird es grauer und immer grauer. Bibi reibt sich die Augen und zuckt zusammen: eine Schiffssirene heult irgendwo, dann heult eine zweite, und nun beginnen auch die Sirenen auf dem eigenen Schiff. Sie heulen, als müßten sie um Hilfe brüllen. Ein Schauer überläuft Bibi, sie wendet sich ab von der Reeling. Das Deck ist leer, vereinsamt. Zwischen den Liegestühlen sind Bücher, Handarbeiten, Fernrohre und Reisedecken verstreut, aber keine Menschenseele ist zu sehen.

Bibi kennt sich gut aus mit Nebel. Das will ich meinen. Sie liebt die Nebel zu Hause auf dem Fjord, denn dann erzählen die alten Leute immer von den gefährlichen Nebeln draußen auf dem Meer, wo die Schiffe einander nicht sehen und hören können, sondern zusammenprallen und mit Mann und Maus versinken müssen. Bibi hatte sich auch schon oft ausgemalt, wie sie bei so einem Schiffszusammenstoß im letzten, allerletzten Augenblick gerettet wird, nachdem sie schon dreimal bis auf den Grund gesunken ist…

Sie hat selbst schon viele Nebel gesehen und Paps vom Nebel in London erzählen gehört. Der ist so stark, daß die Leute bei Tisch zu essen aufhören, weil sie den Weg zum Mund nicht mehr finden können, und im Theater geht der Vorhang mitten im Stück herunter, denn man kann die Schauspieler, die da oben Theater spielen, ja nicht mehr sehen…

Wenn es zu Hause Nebel gab, so ging man schön vorsichtig auf dem Fußsteig und gab acht, daß man nicht mit der Stirn gegen ein offenes Fenster oder gegen einen Laternenpfahl anrannte – aber nachher las man dann im Amtsblatt, daß am selben Tag der Nebel auf dem Meer so arg gewesen war, daß es mehr Unglücksfälle gegeben hatte als beim schlimmsten Sturm.

Nun aber war Bibi selbst mitten in einem der gefährlichen Nebel, die über dem Meer lauern und plötzlich niedergehen, ohne daß der Kapitän etwas ahnen kann. Bibi schlendert ein bißchen herum. Das Wasser liegt wie ein Topfdeckel auf der Meeresfläche. Nicht ein Laut. Kein Brausen. Die Möven kreischen nicht. Nichts. Was ist das? Sie steckt den Finger ins Ohr. Mein Gott, sie hat doch keine Watte drin – so weich greift sich das an!

Der Himmel ist nicht mehr grau, denn es gibt gar keinen Himmel mehr. Nur noch dicken nassen Dampf, der durch die Kleider dringt, daß man eine Gänsehaut bekommt. Und was für ein sonderbarer Geruch! Es riecht nämlich nicht mehr nach Meerwasser und Tang und Salz sondern wie in einem tiefen Loch im Moor, wo man in alten Zeiten Torf gestochen hat.
Der Steward kommt vorbei auf lautlosen Gummisohlen. Er legt Bibi die Hand auf die Schulter: „Geh doch lieber in den Salon! Das hier ist nichts für dich!”

 

Dann hört Bibi die Sirenen des Schiffes. Sie heulen, heulen, heulen wie Millionen Hähne, denen der Kopf abgeschlagen werden soll, und nun weiß sie, das Schiff ist mitten in der Nebelbank. In der Nebelbank! Das klingt so sonderbar. Niemand kann wissen, wie viele Schiffe vorne oder dicht an der Seite liegen. Wenn die Sirenen nicht heulen, ist es so still wie sonst sicher nur im Grab. Wenn sie aber darauf losheulen, dann ist es, wie wenn der Vogel Rock, der doch schon Tausende von Jahren tot ist, wieder auferstanden wäre und vor Hunger brüllte, um dann alle die Schiffe zu verschlingen.
Sie schleicht in den Salon. Alle Kronleuchter sind angezündet, aber auch hier hängt der Nebel wie ein dichter, grauer Schleier. Die Leute flüstern miteinander. Da – plötzlich ein neues Signal, das sie noch nie gehört hat; die Menschen springen auf, schreien und sinken in die Knie. Jemand brüllt mit Donnerstimme: „Alles an die Rettungsboote! Rettungsgürtel anlegen!”

Bibi weiß kaum, was mit ihr geschieht, da steht sie auch schon bei einem der Rettungsboote mit dem Rettungsgürtel fest um den Leib. Die alte Dame mit Petersil weint und jammert: Wer wird sich des Hundes annehmen, wenn sie nicht mehr ist! Bibi packt Petersil und drückt ihn fest an sich. Der Hund leckt ihr die Wange. Alle Leute schreien durcheinander, keiner hat gemerkt, daß das Schiff mit einem andern zusammengestoßen ist. Die Matrosen und Offiziere machen den Mund nicht auf. Sie stehen jeder an seinem Platz, stumm und steif wie große Zinnsoldaten. Sooft die Sirenen beulen, zuckt Bibi zusammen und die Damen kreischen. Warum geht man nicht in die Boote?

Der Steward, Bibis guter Freund, flüstert ihr ins Ohr: „Nur keine Angst, das Ganze ist bloß eine Übung!”

Bibi lächelt ihn dankbar an und drückt Petersil fest an sich. Wie wohl es tut, sein kleines Herz klopfen zu hören. Sie greift nach den feinen Seidenbeinchen, die über ihre Hände hängen.

Kann sein, daß sie eine Stunde, einen Tag oder auch nur fünf Minuten so gestanden hat, sie weiß es nicht. Da brüllt die Kommandostimme wieder: „Alles zurück! Die Rettungsgürtel bereithalten! An Bord alles in Ordnung!”

Bibi denkt gerade darüber nach, wie sie ein Bild von dem Beinah-Zusammenstoß zeichnen wird, als ein furchtbarer Krach sie so hoch in die Luft springen läßt, daß Petersil ihr fast entglitten wäre.

Ein Krach – ach nein, etwas viel Schlimmeres, etwas wie ein Donner und ein Erdbeben zugleich, von so was hatten Matrosen aus San Franzisko einmal erzählt. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, jetzt war wirklich ein Zusammenstoß!

Aber das Merkwürdigste kommt erst: Kein Laut ertönt! Kein Schrei! Es ist so, als wären alle an Bord mit einemmal zu Salzsäulen erstarrt. Da stehen sie so ruhig wie die Leute in der Kirche, wenn der Priester sie segnet und die alten Leute sich in die Nase zwicken, um nicht zu niesen. Auch Bibi schreit nicht auf, greift nur in die Tasche nach ihrem Telegramm. Wie sie es berührt, ist ihr, als berührte sie ihren Paps selbst. Und ohne weiter nachzudenken, betet sie das Vaterunser, denn sie hat in der Zeitung gelesen, daß man das immer tut, wenn man ertrinken soll und die Musik dazu spielt: Nearer my God to Thee…

Wieso strömt das Wasser denn nicht herein? Wieso legt sich das Schiff nicht auf die Seite? Wieso gerät das Schiff nicht in Brand? Wieso springen die Kessel nicht in die Luft?

Und alle die im Zwischendeck!! Wenn sie nun gar nicht wissen, daß das Schiff im Nebel einen Zusammenstoß hatte! Bibi schießt über das Deck, drängt sich überall durch, Petersil springt ihr vom Arm, sie kümmert sich nicht darum. Hinunter, hinunter, noch eine Treppe hinunter. Hier muß es wohl sein… Nein, sie steht im Rauchsalon. Und wieder hinauf. Und wieder hinunter. Der Speisesaal zweiter Klasse. Ihr schwindelt. Sie rennt gegen Wände an, von denen sie vorher nie etwas bemerkt hat. Ist das ganze nicht nur ein Traum? Ach nein, das sind ja die Schotten, die wasserdichten Schotten, die sich automatisch schließen, wenn der Kapitän nur auf einen Knopf drückt.

Bibi stürzt wieder hinauf. Nun kann sie überhaupt den Weg nicht mehr finden. Sie ist wie ein Betrunkener, der das Haustor von einer Straßenlaterne nicht unterscheiden kann. Oben auf dem Deck ein Stimmengewirr. Alle Leute lachen und umarmen einander. Bibi schnappt endlich auf, daß der „Seestern” mit einem englischen Kohlendampfer zusammengestoßen ist und was Ordentliches abgekriegt hat. Aber so aufregend, wie sie es jetzt den Verschworenen erzählt, war es nun doch nicht.

„Unser Schiff”, sagte sie, „hatte so ein Loch an der Seite bekommen, daß wir drei Tage und drei Nächte das Wasser auspumpen mußten, ehe ein anders Schiff kam und uns an Bord nahm. Denn die Rettungsboote waren ja bei dem Zusammenstoß runtergefallen und davongeschwommen. Ich hatte riesige Blasen an den Händen, vor lauter Pumpen. Und dabei gab es keinen Tropfen Wasser, das heißt, Salzwasser gab es natürlich genug, und das mußten wir trinken! Pfui Teufel! Und schlafen durften wir überhaupt nur mit den Rettungsgürteln an. Aber ich möchte nie mehr in so einen Nebel kommen. Herrgott, wenn ich nur daran denke, wie ein Schiff nach dem anderen so dicht an uns vorbeifuhr, daß ich die Hände auf den Rücken legen mußte, um mir nicht die Finger abbrechen zu lassen… Aber kurz darauf kamen wir an der hypnotischen oder magnetischen Klippe vorbei, und der Kapitän wußte nicht aus noch ein, denn die Nadel im Kompaß rannte plötzlich wie irrsinnig herum, sodaß er keine Ahnung mehr hatte, wo Norden und Süden lagen. Das dauerte so lange, bis jemand draufkam, daß wir alles, was aus Stahl war, über Bord werfen mußten, denn dann hatte die Klippe nichts, was sie anziehen konnte, und so kamen wir endlich wieder weiter. War das nicht eine gute Idee?”

3. Kapitel – Die Verschworenen

Nachdem Bibi die Geschichte von dem Zusammenstoß erzählt hat, hebt sie den Kopf und schnuppert: „Ich glaube, wir bekommen ein Gewitter. Es ist so schwül!”

„Ich glaube viel eher, es gibt einen Wirbelsturm! Wenn der über uns kommt, müssen wir uns nur mit der Nase auf die Erde werfen, dann geschieht uns nichts. Ganz so, wie wenn einen ein wilder Stier verfolgt.”

„Aber ich habe meinen neuen Jumper an, und der geht ein im Regen!” „Ach was, hab dich nicht immer so mit deinen Fähnchen! Au, ich hab’ eine Idee. Wir gehen einfach zum Springbrunnenpastor, das ist ja nicht weit, dort bekommen wir Kaffee und warme Waffeln!”

Die ganze Schar begab sich daraufhin nach dem Häuschen, wo der alte pensionierte Pastor wohnte. Den hatte im vergangenen Jahr beinahe der Schlag getroffen, als ihm ein Springbrunnen in seinem Garten errichtet worden war, während er am Sonntagvormittag in der Stadt die Kirche besucht hatte. Es war Bibis Idee gewesen. Sie verstand sich auf Gas und Wasser, das hatte sie von dem Lehrjungen des Installateurs gelernt, und sie hatte die Sache im Haus von Fräulein Mikkelsen, der Näherin, und im Garten von Schuster Mogensen ausprobiert.

Eigentlich war es so kinderleicht, daß es ganz unbegreiflich schien, daß nicht alle Menschen sich Springbrunnen anlegten. Man brauchte nichts anderes zu tun, als ein Blechgefäß auf einem Baum zu befestigen, natürlich mußte Wasser drin sein. Dann steckte man einen Gasschlauch hinein, zog das andere Ende des Schlauchs über ein Stück altes, abgebogenes Gasrohr und legte dieses Gasrohr in die Erde, mitten in ein Blumenbeet, sodaß die eine Öffnung nach oben schaute. Dann schraubte man den Pfropfen einer Kölnisch-Wasser-Flasche an das Ende des Gasrohrs, worauf man sich zwischen den Johannisbeersträuchern versteckte und wartete, bis jemand kam. Es kam immer jemand. Und dieser Jemand konnte nicht begreifen, was das Rohrende mitten im Blumenbeet zu suchen hatte. Es kam also immer dazu, daß dieser Jemand den Pfropfen aufschraubte, und schwupps sprang der Wasserstrahl in die Luft.

Bibi und die andern hatten sich versteckt, als der Pastor von der Kirche nach Hause kam. Er hatte einen langen Weg hinter sich und wollte gleich zu Mittag essen, erst mußte er aber noch mal nach seinen Blumen sehen. Er bemerkt das Rohr, macht sich daran zu schaffen, und wie er den Pfropfen gelöst hat und der Strahl hoch in die Luft springt, macht er ein Gesicht, als sähe er Elias zum Himmel auffliegen. Sie hören alle fünf, wie er ausruft: „Jetzt lebe ich schon mehr als siebzig Jahre, dies aber ist das erste Wunder, das Gott der Herr mir vergönnt hat!”

Und wenn Valborg, dieser Schafskopf, nicht zu wiehern begonnen hätte, so wäre die Sache auch niemals herausgekommen. Das Schönste aber war, daß der Pastor gar nicht mit ihnen zankte oder sie aus dem Garten jagte, sondern sie viel mehr zu sich einlud und ihnen von seiner Haushälterin Kaffee und Waffeln vorsetzen ließ.

Bei dieser Gelegenheit hatte er ihnen auch erzählt, daß er, seit er als junger Pfarrgehilfe in das Fräuleinstift von Stövringgaard eingetreten war, niemals ein Gewitter ohne Kaffee und frische Waffeln erlebt hatte. Mochte es nun Tag oder Nacht sein. Die Jungfer hatte oft unter die Betten kriechen und die alten Stiftsdamen hervorziehen müssen, wenn sie aus lauter Angst vor dem Blitz sich dort verkrochen hatten. Sowie aber die Oberin zu Kaffee und Waffeln läuten ließ wurden sie ganz mutig und tranken Kaffee und aßen Waffeln, bis das Gewitter vorüber war… Deswegen also klopften Bibi und ihre Verschworenen jetzt bei dem guten Alten an, und sie kamen gerade zu den Waffeln zurecht, ehe der erste Donner loskrachte.

Sowie das Gewitter vorüber war, marschierte man wieder los und machte nicht eher halt, als bis das Dorf mit den eng aneinandergebauten Höfen und den Storchnestern auf jedem einzelnen Dach erreicht war. Bibi, die sich genau auskannte, zeigte den anderen, wie man von dem Ast einer Rieseneiche sich von hinten herum auf das erste Dach schwingen konnte. Sie half ihren Kameradinnen hinüber, und nun spazierten sie alle fünf so bequem wie auf der Landstraße von Dach zu Dach, von Nest zu Nest. In jedem Nest saß eine Storchenmutter, die die Jungen hütete, während der Mann auf den Wiesen unten nach etwas Eßbarem suchte. Kaum sah die rotbeinige Gesellschaft die Mädchen, so nahm sie auch schon eine feindselige Haltung an und schlug mit den Flügeln um sich. Bibi jedoch, die von Jens Storch das Klappern gelernt hatte, legte mit ihrer Kunst los, und die anderen halfen ihr tüchtig mit ihren Holzklappern, die sie zwischen den Fingern hielten. Und da ein Storch ja auch nicht besser als ein Mensch ist – und alle Menschen sind von Natur aus neugierig (auch die, die ihre Neugier gerne verheimlichen möchten) – verzichtete die Storchenfrau auf jede weitere Feindseligkeit, vor lauter Erstaunen über diese sonderbare Verwandtschaft, die ihr da ohne eine Spur von Flügeln oder Schnabel etwas vorklapperte.

Der Ausflug galt jedoch nicht nur dem Besuch bei den Störchen sondern auch einer Wette zwischen den Verschworenen: Wer würde die meisten Gegenstände finden, die seit dem vorigen Jahr in die Nester eingeflochten waren? Damals hatte Bibi einen silbernen Fingerhut, ein rundes Federschächtelchen, ein Nadelkissen in einer Walnußschale und einen Magnet gewonnen, weil sie gegen alle vier gewettet hatte, daß ein Storchennest ganz gut auch viele hundert Pfund wiegen könne. Das wollte ihr keine glauben, obwohl Bibi ganz ehrlich gestanden hatte, sie habe es im Lexikon gelesen. Als sie aber nach Hause kamen und Bibi das Lexikon holte und ihnen schwarz auf weiß zeigte, daß sie recht gehabt hatte, mußten sie sich wohl oder übel geschlagen geben. Denn der Mann, der das geschrieben hatte, hatte zwanzig Storchnester in den verschiedensten Ländern abgewogen. Aber er wußte doch nicht ganz genau Bescheid, denn er schrieb, die Storchnester seien aus „Zweigen, Stäbchen und Ästchen” geflochten; das stimmt zwar, aber es stecken, weiß Gott, noch ganz andere Sachen darin.

Die Verschworenen schlichen von Nest zu Nest, mäuschenstill, um die Storchenfrauen nicht zu erschrecken oder von unten entdeckt und davon gejagt zu werden. Die Leute von den Höfen arbeiteten glücklicherweise alle auf dem Feld, und die alten Frauen, die zu Hause geblieben waren, um zu kochen, hatten genug zu tun und waren in ihren Kopftüchern wohl auch ein bißchen schwerhörig.

Ist es nicht lächerlich, daß man immer nur Elstern und Raben als diebisch bezeichnet, den Störchen aber niemals nachsagt, daß sie klauen, obwohl die, weiß der Himmel, den Unterschied zwischen mein und dein überhaupt nicht kennen! Bibi schrieb alles auf, was sie sah – das war erlaubt, die andern machten das auch.

Als man wieder unten saß, die letzte Flasche Brauselimonade getrunken und das letzte Butterbrot verzehrt hatte, kam der große Augenblick, in dem die Zettel vorgelesen werden sollten. Bibi war ganz sicher, daß sie gewinnen würde. Auf ihrem Zettel stand (die Hölzchen und Ästchen wurden natürlich nicht aufgeschrieben, die verstanden sich ja von selbst): Vier verschiedene Strümpfe, ein halbes Paar alte Hosen, ein Korsett mit Fischbeinen aus der Zeit, in der die Damen in der Mitte zusammen-geschnürt waren wie ein Stundenglas. Ein Strohhut ohne Rand. Ein Stückchen Fischnetz, ein Topflappen, fünf Scheuertücher, eines zerfetzter als das andere, die hatten sie wohl aus dem Mist aufgelesen. Drei Taschentücher, eine Nachtmütze, einen Lederbeutel, mit einer Lederschnur zusammenzuziehen, ein Stück Riemen, ein Knäuel Wolle, eine Kinderklapper, eine Wasserkanne, ein Pantoffel, der Schaft von einem hohen Stiefel, eine Windel, der Stock eines Kindersonnenschirms, ein Lineal, ein Schwamm, ein Schulheft und ein halbes Gebetbuch.

Sigrid und Anne-Charlotte hatten überhaupt keine Augen. Sigrid hatte nur ein Stück von einem Beffchen gefunden und Anne-Charlotte ein Lesezeichen aus Pergament. Valborg und Ulla hatten jedoch drei Dinge mehr aufgeschrieben als Bibi und darunter sogar, man höre und staune, eine richtige fuchsrote Männerperücke!

Ulla schlug vor, ein kleines Mittagsschläfchen zu halten, und dann wollte man an den Heimweg denken. Nun war es aber hohe Zeit für Bibi, die anderen für ihren geheimen Plan zu gewinnen. Sie begann: „Ich wette meinen Kopf, daß nicht eine von euch das wagt, was ich jetzt wagen werde!”

„Ah Gott, tu’ dich nicht so dick! Was du dir jetzt alles einbildest, seitdem du auf deinem Schloß und in Deutschland warst!” „Meine große Schwester, die reist nach Amerika, sowie sie das Abitur gemacht hat, das ist wohl ein bißchen weiter als Deutschland!”

Bibi sagte: „Ich bleibe dabei. Ich wette um meine Briefmarkensammlung, daß keine von euch das wagt, was ich jetzt tun werde!”

Valborg hob die Hand: „Also wetten wir!”

Und im selben Augenblick flogen auch noch drei andere Hände in die Höhe: „Ich auch, ich auch!”

„Aber was bekomme ich, wenn ihr verliert?”

Es dauerte eine geraume Weile, ehe man darüber einig wurde. Bibi bestimmte selbst, was jede einsetzen sollte, und fand schon immer etwas heraus wovon sie wußte, daß es der Freundin sehr teuer war.

„Also, was ist denn jetzt das, was nur du allein dich getraust, du eingebildete Pute?”

Bibi schob das Kinn vor und redete, als stünde sie mindestens hoch oben auf einem Stuhl: „Ich sage euch aber von vornherein, daß ihr verlieren werdet, denn ihr seid ja alle miteinander elende Feiglinge.”

„Wir und feig? Selber feig! Du hast schön gezappelt, damals auf dem Schiff im Nebel! ich möchte nicht gesehen haben, wie du den Schwanz eingekniffen hast. Also schieß’ los, was ist denn?”

„Ich erkläre hiermit, daß ich zum Gespensterhaus gehe. Ihr könnt ja umkehren – mit eingekniffenem Schwanz, wie Valborg sagt, denn ihr traut euch ja doch nicht. Also habe ich meine Wette gewonnen!”

Große Bestürzung. Die Storchenbeine trippeln hin und her. Man riß den Mund auf und schloß ihn lautlos wieder. Es war förmlich zu hören, wie Sigrid und Anne-Charlotte ihre eigene Spucke schluckten. Da rief Ulla plötzlich mit gellender Stimme: „Also los zum Gespensterhaus! ich werde es nicht auf mir sitzen lassen, daß ich ein Feigling bin!”

„Etsch, du hast verloren! Etsch, du Großmaul!”

Aber Bibi warf den Kopf zurück: „Die Wette ist erst verloren, wenn ihr alle vier durch die Zimmer und über den Dachboden gegangen seid.”

„Sollen wir vielleicht auch den Schornstein runterrutschen?”

„Das kann jede machen, wie sie will – – Übrigens ist ja der Schornstein voriges Jahr eingestürzt, du erinnerst dich doch, Ulla!”

Ulla tat, als hätte sie nichts gehört.

 

Bibi hatte eine richtige Schwärmerei für den Gespensterhof. Vielleicht weil Jensine bei dem „verrückten Rittmeister” gedient hatte, bis er im Fluß ertrank und dann im Gespensterhaus zu spuken begann. Jensine konnte ihr gar nicht genug davon erzählen, wie der Rittmeister immer alle Leute zum Lachen gebracht hatte, mochten sie auch noch so wütend auf ihn sein. Und herrlich schön muß er ja auch gewesen sein, aber das war wohl nicht der Grund, weshalb die Leute lachten. Jensine versuchte ganz komische Grimassen zu schneiden, um zu zeigen, was er mit den Lippen machte, daß die Leute lachten. Und seine Frau konnte auch nicht anders, sie mußte lachen und vergnügt sein, obwohl oft nicht einmal trockenes Brot im Hause war, denn er verspielte ja alles.

Bibi war beinahe überzeugt, daß der verrückte Rittmeister ihrem Paps ähnlich gesehen hat. Sonst wäre es ja nicht zu verstehen gewesen, daß seine Frau ihn immer weiter lieb hatte, auch nachdem er sich ertränkt hatte und alle Menschen sagten, es sei eine Schande. Sie war dann nach Amerika zu ihrem reichen Bruder gereist, für den sie verschollen gewesen war, seit er ihr, anstatt zur Hochzeit zu gratulieren, nur geschrieben hatte: Es wird nicht lange dauern, bis du blutige Tränen weinst!

Die Frau selbst hatte das Jensine natürlich nicht anvertraut, aber Jensine hatte wohl ein bißchen in den Briefen gestöbert. Sie war ja so schrecklich versessen auf alle Briefe, obwohl Bibi ihr schon so oft erklärt hatte, das sei ordinär, und „ordinär” war das Schlimmste, was Bibi sagen konnte. Sie hätte lieber gemordet oder eingebrochen, als etwas getan, was ordinär war.
Bibi sah den verrückten Rittmeister ordentlich vor sich, damals, als er zu viel Champagner getrunken hatte und mitten in der Nacht alle Regimentspferde losband, um sie durch die Stadt stürmen zu lassen, sodaß der alte Nachtwächter die Sturmglocken läuten ließ, denn er dachte, nun sei Krieg und die Kaserne brenne. Aber damals, als die Kaserne wirklich brannte und der verrückte Rittmeister schon den Abschied bekommen hatte und im Gespensterhaus wohnte, weil er kein Geld hatte, um ein anderes Haus zu mieten – damals war es natürlich der Rittmeister, der herbei gelaufen kam, die Pferde herauszog und sich selbst am ganzen Leib so verbrannte, daß er viele Monate lang in einer Badewanne voll Wasser liegen mußte, denn dann tut es nicht so weh. Und seine Frau ließ sich eine ganze Menge Haut abziehen, die man für ihn brauchte, damit er weiterleben konnte. Und dann hatte er sich trotzdem ertränkt!

Ach, hätte Bibi nur damals gelebt, damals, als er noch alles auf seinem Hof verspielte und manches Mal eine Kuh oder ein Pferd in den Speisesaal hineinzog! Niemand durfte ihm widersprechen, denn wenn er zu viel getrunken hatte, war er gefährlich wie ein wilder Stier. Sonst aber war er „sanft wie eine Butterblume”, sagte Jensine. Sie hätte ebensogut Veilchen oder Vergißmeinnicht sagen können, aber sie sagte nun mal Butterblume. Jensine war ja nicht bei ihm, als er noch auf dem richtigen Herrenhof wohnte, sondern sie kam erst dann zu ihm, als er so arm war, daß sie ihren ganzen Lohn auf Milch und Brot anrechnen ließ, so leid taten ihr die beiden, er und seine Frau.

Es kam vor, daß Jensine mitten in ihrer Erzählung zu lachen begann, und dann lachte sie und lachte und konnte einfach nicht aufhören. Dann war ihr eben wieder einer seiner tollen Streiche eingefallen. Zum Beispiel als die vornehme Schwester der Frau unvermutet auf Besuch gekommen war und sie nichts anderes als ein halbes Schwarzbrot und einen Tiegel Schweineschmalz im Haus gehabt hatten. Da sagte der Rittmeister: „Heute besorge ich die Küche ganz allein!”
Und dann deckte er den Tisch mit kleinen Blümchen, so reizend, daß es auch auf der Tafel des Königs nicht schöner aussehen konnte, und zwischen die Blumen stellte er eine Kristallvase, ebenfalls mit Blumen. Kein Mensch konnte ja sehen, daß der Fuß abgebrochen war, er befestigte die Vase ganz einfach mit Stearin von einer Kerze, die er in der Mausefalle gefunden hatte. Und dann packte er einen Ziegelstein in Silberpapier, das er auch irgendwo gefunden hatte, und legte ein paar Brotscheiben so drauf, daß sie genau aus sahen wie Bratenstücke. Und in die rote Kristallkäseglocke kam auch ein Stein hinein, den er mit buttergelber Farbe anstrich, sodaß er aussah wie ein echter holländischer Käse. Schließlich stellte er noch Flaschen mit feinen Etiketten auf den Tisch – es war aber nichts anderes drin als Brunnenwasser. Und als die feine Schwägerin dann zu Tisch geführt wurde und das alles sah, konnte sie nicht anders als laut herauslachen, und dann lud sie sie alle ein, mit ihrem Wagen in die Stadt zu fahren. Dort aßen sie ein feines Diner mit mindestens fünf Gängen, und wenn sie nicht kurz darauf gestorben wäre, hätte sie ihnen sicher ausgeholfen mit Geld, ihr Mann aber wollte für den verrückten Rittmeister keinen Finger rühren.

Oder Jensine erzählte, wie sie manchmal aus der Küche in die Wohnung kam, um ein paar Zündhölzchen zu holen, aber was sieht sie da – – da tanzt der verrückte Rittmeister mit seiner Frau mitten im Zimmer, und das ist ein so herrlicher Anblick, daß Jensine laut zu heulen beginnt. So herrlich war das. Und das war wohl auch der Grund, daß Jensine sich nie entschließen konnte, den Milchmann zu heiraten. Sie konnte nun mal nicht vergessen, wie schön und fein der verrückte Rittmeister ausgesehen hatte. Er hatte viele hundert Wirbel im Haar, den ganzen Kopf voll. Die Frau erzählte, daß er als junger Leutnant einmal versucht hatte, diese Wirbel zu bändigen, aber es nützte nichts, was immer er auch anstellte, nicht einmal der Pferdestriegel half etwas. Da schmierte er sich das Haar mit Fischleim ein, und nun klebte es fest. Aber über den ganzen Kopf hatte er kleine weiße Flecken, daß waren die Wirbel, die nach allen Seiten ausschlugen.

Und als dann nun wieder ein Kind kam – die drei ersten waren ja bei der Diphtherieepidemie gestorben –, war die Frau ganz verzweifelt, und das läßt sich denken, denn wenn der Mann säuft, so können die Kinder ja leicht Idioten werden, und das wollte sie auf keinen Fall. Als aber der Junge zur Welt kam, waren sie so glückselig, daß der Mann einen ganzen Monat lang weder trank noch spielte noch dumme Streiche machte. Dann aber ging es wieder von vorne los, denn wenn man einmal trinkt, kann man nur sehr schwer wieder damit aufhören.

Jensine ging jeden Tag an das Grab. Damals, beim Begräbnis, hatte die Frau des Rittmeisters die ganze Zeit erstarrt vor Trauer neben dem Grab gestanden und hatte den kleinen Ole an sich gepreßt. Aber plötzlich glitt er aus ihren Armen und fiel in das Grab und in alle die Kränze hinein. Als man ihn heraushob, hielt er eine rote Rose in der Hand, die er wohl von einem der Kränze gepflückt hatte. Und alle Leute sagten, das sei ein gutes Vorzeichen. Jensine aber wartete nun schon jahrelang auf einen Brief aus Amerika, aber der Brief kam ewig nicht, die Frau des verrückten Rittmeisters und ihr kleiner Ole waren wohl schon längst vor Kummer gestorben.

In dem Gespensterhaus aber wollte weit und breit keine Menschenseele mehr wohnen, denn es war nun schon das dritte Mal nacheinander, daß jemand, der dort lebte, sich etwas angetan hatte.

4. Kapitel – Das Gespensterhaus

Je näher die Verschworenen dem Gespensterhaus kommen, desto langsamer geht es. Man ist jetzt so nahe, daß man schon die Bäume sieht. Bibi ist immer noch die Anführerin. Und wenn dort zwanzig Gespenster herumspazieren, sie kehrt nicht um.

Plötzlich aber fährt Ulla zurück, als wäre sie auf eine Schnecke getreten, und stöhnt auf: „Ein Eulenschrei! Das bedeutet Tod! Ich komme nicht einen Schritt weiter mit!”

Bibi wirft verächtlich den Kopf zur Seite: „Hab’ ich es nicht gesagt! Was ein Feigling ist, das bleibt ein Feigling!”

„Ich bin kein größerer Feigling als du!” stammelt Ulla und wankt ganz knieweich weiter.

Bibi ruft über die Schulter zurück: „Warum soll eine Eule nicht schreien, wenn jedes Huhn gackern darf? Oder verlangst du vielleicht, daß die Eulen miauen?”

Nun sind sie bei dem Hof angelangt, einem kleinen, verfallenen Bauernhof. Das Pförtchen steht seit Jahren offen, sodaß jeder, der auf der Straße vorbeikommt, immer in all das Elend hineinsehen kann. Bibi ruft: „So kommt doch schon! ich sterbe vor Durst!”

Im Hof steht die große Pumpe in einem Gestrüpp von Schierling, Unkraut und Brennesseln; man muß ordentlich mit den Armen rudern, um überhaupt durchzukommen. Durst ist ansteckend wie Schnupfen. Kaum hat Bibi von Durst gesprochen, so fühlen sich alle auch schon ausgetrocknet wie in der Wüste – und hier ist die Oase, die allerdings von Gespenstern und nicht von Karawanen bevölkert ist.

So verwildert und so unheimlich wie heute hat Bibi den Hof noch nie gefunden. Der Schornstein, der voriges Jahr einstürzte, liegt immer noch da, ein Haufen zerbröselter Steine. Im Fallen riß er ein Loch ins Dach, die Winterstürme machten das Loch noch größer. Die Stalltür, die sonst immer auf- und zuknallte, ist zusammengefallen wie die Dauben eines trockenen Fasses, das die Reifen verloren hat.

Bibi kämpft sich bis an die Pumpe durch: „Bis ich top rufe, muß jede zwanzigmal pumpen! ich fange an!” Sie erinnert sich noch vom letzten mal, daß man mindestens zweihundertmal pumpen muß, ehe das braune Wasser trinkbar wird. Heute jedoch – kaum hat sie das erste mal gepumpt, so sitzt sie vor Erstaunen beinahe auch schon mitten in den Nesseln. Das Wasser ist ja klar und hell wie reinstes Quellwasser!

Da fährt es ihr heraus: „Hier muß eben erst jemand gewesen sein!”

Das hätte sie nicht sagen sollen, denn im selben Augenblick schossen die vier andern in wilder Flucht zum Tor hinaus und wurden fürs erste nicht wieder gesehen.

Da steht nun Bibi. Allein. Das Herz klopft ihr bis in den Hals hinauf. Wenn sie jetzt nur nicht der Schlag trifft! Aber wenn sie schon sterben muß, so will sie wenigstens erst was zu trinken haben. Sie pumpt und setzt den Mund an, daß ihr das Wasser den Bauch und die Beine hinunterrinnt. Und wie der Durst gelöscht ist, kehrt auch der Mut zurück. Gespenstern ist zwar alles mögliche zuzutrauen, aber daß sie bei hellichtem Tag Wasser pumpen, das läßt Bibi sich denn doch nicht ein reden. Es müssen also Menschen hier gewesen sein – und vor Menschen kennt sie keine Angst. Sie watet ganz ruhig durch die Nesseln – brrr, wie das brennt– bis zur Küche. Greift die Klinke an und betrachtet dann die Hand: nein, die ist nicht gelb vor Rost wie voriges Jahr! Wer sich hier bei der Pumpe zu schaffen gemacht hat, der muß auch im Haus drin gewesen sein.
Sie steht jetzt in der Diele. Die halben Fliesen fehlen. Es riecht muffig und nach Mäusen – oder am Ende gar nach Ratten? Ach was, und wenn schon! Ratten beißen höchstens kleinen Kindern in der Wiege die Nase ab und auch dann nur aus Versehen und nicht mit Absicht. Aber nun, nein sie täuscht sich bestimmt nicht, nun hört sie ein Geräusch, ein kleines, raschelndes Geräusch, sicher genau so, wie wenn die Geister in ihren weißen, wallenden Gewändern geschlichen kommen…

Bibi reißt die Küchentür auf, steckt aber den Finger in den Mund, um nicht aufzuschreien: hier muß jemand sein, da gibt’s keinen Zweifel! Mitten auf dem Fußboden steht ein verrosteter Blechtopf voll geschälter Kartoffeln, die Schalen liegen ringsum verstreut. Auf dem Tisch ein paar Zwiebeln, ein Taschenmesser, ein Stück Papier mit Fett oder Butter, ein Strohhut und unter dem Strohhut ein aufgeschlagenes Buch. Sie nimmt den Hut zwischen zwei Finger und begutachtet ihn. Im Hutfutter steht: Lord & Tailor, New York. Für einen Landstreicher riecht er zu appetitlich und für ihren Kopf ist er zu groß. Sie blättert in dem Buch, das sorgfältig in Papier eingeschlagen ist. Es ist englisch, und als Titel hat es ein schweres Wort, das Bibi noch nie im Leben gehört hat: Balneotherapeutics. Sie macht es rasch zu und sieht sich weiter nach anderen Menschenspuren um.

Oh, dort in der Ecke steht ja auch noch ein Handköfferchen! Jetzt versteht sie alles. Sicher ist es einer von den Studenten aus Kopenhagen. Die können ja so viele Fußtouren machen, wie sie wollen. Die haben vier Monate Sommerferien!
Sie horcht auf: wieder das kleine, raschelnde Geräusch. Ganz leise drückt sie auf die Klinke und geht in das Zimmer nebenan. Nun aber muß sie gleich die ganze Hand in den Mund stecken, um nicht vor Lachen herauszuplatzen und ihn aufzuwecken, der da mitten auf dem Fußboden mit einem Bündel Heu unter dem Kopf liegt und schläft! Nun versteht sie das Geräusch: der schnarcht eben so!

Bibi geht auf den Zehenspitzen um ihn herum und betrachtet ihn von allen Seiten. Die Zehen gucken nicht aus den Schuhen heraus. Die Schuhe selbst sind groß und gut und haben dicke Kreppsohlen. Er hat ein Paar Pumphosen an, wie sie sie aus den Modeblättern in dem Schaufenster von Schneider Mölmark kennt. Die Hemdärmel sind beinahe bis zu den Schultern hinauf eingerollt. Und diese Muskeln! Der kann sicher einen ganzen Sack Roggen heben, und noch dazu mit Leichtigkeit. Und wie komisch die Haare um seinen Kopf herumstehen. Als wären sie in kleinen Büschelchen gepflanzt, von denen eines das andere nicht leiden kann.

Herrgott, die Kartoffeln! Er ist wohl furchtbar hungrig, aber zu müde gewesen, um sich das Essen fertigzumachen. Bibi schießt hinaus in die Küche. Ja wahrhaftig, alles ist bis ins kleinste vorbereitet, es fehlt nur ein Zündholz, um das Reisig im Herd anzuzünden. Dieses Zündholz aber fehlt wirklich. Sie zieht also die Schuhe aus, schleicht ganz leise wieder zu dem Schlafenden hinein und läßt die Hand vorsichtig erst in seine eine, dann in seine andere Hosentasche gleiten. Gott sei Dank, hier findet sie eine Zündholzschachtel.

Sie macht Feuer, schält und schneidet die Zwiebeln, scheuert die verrostete Bratpfanne – da sie nichts anderes findet, nimmt sie dazu einen alten Ziegelstein – und röstet die Zwiebeln in der Butter aus dem Papier.

Wie alles fertig ist, geht sie ins Zimmer und bläst dem Schläfer ins Gesicht. Er denkt erst, das ist eine Fliege, und sucht sie mit der Hand zu verscheuchen. Da bläst sie ihn nochmals an. Endlich schlägt er die Augen auf: „Hallo girl! How are you?”

Nein, wie der sich wichtig macht, weil er ein bißchen Englisch kann. Na, das wird sie ihm bald ausgetrieben haben: „Kannst du denn nicht Dänisch, du Esel?” Er springt auf und steht, beinahe einen Kopf größer als sie, neben ihr: „Ich… kann… schon… Dänisch, wenn… Ich nachdenke…”

Bibi findet das Ganze jetzt plötzlich ungeheuer komisch. Er spricht ja ganz anders als sie. Ist er vielleicht aus Bornholm? Wie sie ihn das fragt, lacht er und sagt: „Ich… von… hier…” Es ist wohl besser, nicht mehr viel zu fragen, sondern ihm zu allererst was zu essen zu geben. Und wie der Kerl essen kann, also so was hat sie noch nicht erlebt! Er verschlingt eine Ladung Kartoffeln nach der andern. Ein Glück, daß die Zwiebeln so schön braun sind und nicht ein bißchen verbrannt. Er sagt: „Thank you ever so much!”

Soviel Englisch versteht auch Bibi. „Wie alt bist du?”

„Zehn und sechs.”

„Was soll denn das wieder heißen?”

„Sixteen.”

Es ist nicht einfach mit ihm. Wenn er nur richtig im Kopf ist. Sie sagt: „Wo kommst du her?”

Und er antwortet: „Ich habe mich als Augenarzt herübergebracht.”

Da nickt sie mit dem Kopf, als glaubte sie jedes Wort. Wahnsinnigen soll man immer nur nachgeben und nach dem Mund reden, sonst gehen sie gleich mit dem Messer auf einen los. „Bist du vielleicht schon viele Jahre Augenarzt?”

Da springt der Bursche auf und schlägt mit den Armen um sich, so wie im Kino, wenn die Leute miteinander boxen – Paps kann es nicht leiden, daß sie so was sieht. „Augenarzt!” ruft er, „du glaubst doch nicht, daß ich ein wirklicher, richtiger Augenarzt bin? Oh no, not at all! I tell you!

Er nimmt eine übriggebliebene Kartoffel und beginnt sie zu schälen: „Sieh her! Die Kartoffel hat Augen. Ich nehme diese Augen heraus. Sechs Stunden jeden Tag. I and…. I drei andre boys. Das nennt man doch nur zum Spaß „Augenarzt”. Do you understand? Alle großen Schiffe haben solche Augenärzte. So kommt man gratis hin und zurück!”

Bibi schlägt die Hände zusammen: „Du hast dich also herübergeschält? Aus Amerika?”

Der Bursche nickt. „I and three other fellows.”

Bibi übersetzt für sich: Ich und drei andere Burschen. „Aber sprich jetzt gefälligst Dänisch. Ich werde dir schon helfen. Erst dachte ich, du hättest eine Schraube los, da oben.”

Sie zeigt auf die Stirn und lacht, er aber antwortet mit Grabesernst: „Das sagt mein Onkel immer. Macht aber nichts. Mama sagt, ich bin allright. Nur ein bißchen dumm.”

Bibi weiß nicht recht, was sie sagen soll. Es ist immer furchtbar taktlos, auf die Gebrechen der andern anzuspielen, mögen diese Gebrechen nun äußerlich oder innerlich sein.

„Du wohnst wohl in dem Dorf, wo die Höfe alle aneinandergebaut sind?”

Er schüttelt den Kopf, sie merkt, daß er sie nicht versteht. „In dem Dorf mit den Storchnestern?”

Jetzt strahlen seine Augen: „O yes, mama always… I beg your pardon – Mama erzählte immer von den Störchen und ihren Jungen. Langer Schnabel. Lange, rote Beine. Ein Bein. Ich wohne nicht dort.”

„Wo wohnst du dann?” Der Bursche lächelt: „Mama says, in der alten Heimat fragen die Leute immer.”

Bibi wird dunkelrot und sagt rasch: „Gott, ist das eine Hitze heute. Ich schwitze am ganzen Leib. Du nicht auch?” Ach, was ist das, da fragt sie ja schon wieder! Und nun erzählt sie rasch von Paps und von dem Examen morgen, und daß in acht Tagen Gott sei Dank die Ferien beginnen und daß es sicher schon sehr spät ist. Paps will nicht, daß sie allein durch den Wald geht, wenn es dunkel wird, und die Verschworenen glauben sicher, daß sie vor Schreck über den Spuk gestorben ist.

Der fremde Bursche sieht sie die ganze Zeit an und bewegt dabei die Lippen, als redete er leise mit. Das macht sie nervös: „Was machst du denn mit deinem Mund? Hast du den Veitstanz?” Und was geschieht? Sie traut ihren Ohren nicht: Er wiederholt Wort für Wort, was sie gesagt hat, und noch dazu in demselben Tonfall. Da wird sie wütend: „Willst du mich vielleicht zum Narren halten? Du solltest nur hören, wie das klingt, wenn du so quatschst.”

Da sagt er wieder: „I beg your pardon!… Ich wollte nur versuchen, einmal ohne meinen american accent zu sprechen…”

„Ach so, ich dachte erst, du machst dich lustig über mich… Übrigens gefällt mir dein american accent sehr gut! Ich kenne aus meiner deutschen Schule drei Jungens aus Amerika. Aber du könntest mir trotzdem sagen, wo du heute übernachten willst, denn hier – kannst du doch nicht wohnen.”

„Es ist doch sehr nett hier. Warum denn nicht?”

Auf einmal tut er Bibi furchtbar leid. Da kommt er von so weit her und hat sicher noch nie vom Gespensterhaus gehört, und wenn er auch noch so groß und stark ist – man kann nie wissen… Sie stottert zwar ein bißchen, aber sie bringt es doch hervor: „Nein, hier kannst du wirklich nicht bleiben, denn alle Leute sagen, daß der verrückte Rittmeister hier umgeht, und…”

Er legt ihr die Hand auf den Mund, sie aber reißt sich los:„Ich werde wohl noch sagen dürfen, was ich will, und es ist wahr, daß er seinen Abschied bekam, weil er so viel getrunken und gespielt hat, und zuletzt ging er in den Fluß und ertränkte sich…”

Sie wollte noch weiter reden, aber der Junge verzog sein Gesicht so sonderbar, die Augen kniff er zusammen, als blendete ihn die Sonne. Sie war wieder überzeugt, daß etwas bei ihm nicht in Ordnung sei. Er war krank. Gefährlich krank. Da konnte sie ihn doch nicht einfach im Stich lassen. Denn wenn er auch älter war, so war sie doch sicher bei weitem klüger. Denn sie war gesund.

Da sagte der Bursche: „Ich werde dich nach Hause begleiten. Kleine Mädchen sollen lieber nicht allein durch den dunklen Wald gehen.”

„Ja, kennst du denn den Weg?”

„O yes, Mama erzählte ja so oft von dem großen Heuschober, der so gut riecht. Dort kann ich schlafen.”

Bibi hatte eine Eingebung: „Du kannst doch bei uns wohnen. Paps sagt, ich darf jeden einladen, wenn er nur ein anständiger Mensch ist. Jensine allerdings wird erst ein bißchen brummen, aber das geht vorüber.”

„Jensine?”

„Jensine ist unser Mädchen. Sie ist einfach großartig. Und weißt du, als sie noch jung war, diente sie bei dem verrückten Rittmeister…”

„What do you say?!” Der Junge packte Bibi beim Arm: „Jensine! Mama erzählte mir so oft…”

„Ja, und sie war auch dabei, als der verrückte Rittmeister begraben wurde und als seine Frau den kleinen Ole in das Grab fallen ließ…”

Der Junge ließ Bibis Arm nicht mehr los. Er sprach, als läse er die Worte von einer großen Tafel herunter, die ganz, ganz anderswo stand: „Und als man Ole aufhob, da hielt er eine Rose in der Hand…”

Bibi reißt die Augen auf: „Woher… woher weißt du das?”

Da legt er den Arm um ihre Schulter: „Du fragst soviel. Warum fragst du denn nicht, wie ich heiße?”

Bibi schnappt nach Luft: „Wie? Was?…”

Dann geht ihr ein Licht auf. Und sie ruft: „Bist du denn… bist du am Ende gar – Ole?” Er nickt und nickt.

Sie aber klatscht mit den Händen: „Hurra! Jensine wird sicher in Ohnmacht fallen, wenn sie hört, wen ich da bringe. Du hättest das wirklich gleich sagen können, du Rindvieh!”

 

„Du verrätst Jensine nicht eine Silbe davon, verstanden, Paps. Ich werde ihr nur sagen, daß sie noch ein Gedeck auflegen soll, für jemand, den ich im Gespensterhaus traf. Dann werden wir ja sehen, ob sie von selber drauf kommt. Wahnsinnig spannend!”

Jensine murrte. Was das wieder heißen solle, daß da im letzten Augenblick ein wildfremder Landstreicher an den Tisch geschleppt werde. So einer ißt ja noch mehr als ein verhungerter Hund. Da mußte sie nun rasch noch um ein Viertelpfund gekochten Schinken laufen, und die weiße Schürze mußte sie auch nehmen, obwohl ihr Wollkleid sonst für alle Tage gut genug war. Aber seit Bibi auf dem Schloß und im Ausland gewesen war, hatte sie ja lauter so verschrobene Ideen im Kopf.
Jensine servierte zuerst dem Stationsvorsteher, ohne den Landstreicher auch nur eines Blickes zu würdigen. Als sie ihm aber die Schüssel mit Spiegelei und Schinken hinhielt, mußte sie doch, ob sie nun wollte oder nicht, sein Haar sehen. Sie starrte darauf, starrte und hielt die Schüssel dabei ganz schief, sodaß die Spiegeleier auf das Tischtuch flossen. Dann ließ sie die Schüssel los und schlug die Hände zusammen: „Herrgott… Herrgott… aber das kann doch nicht wahr sein… Herrgott im Himmel… bist du es, Ole?”

Und sie küßt ihn und sie streichelt ihn und sie wühlt in seinen Haaren. „Ganz wie dein seliger Vater, als er noch am Leben war. Das war ein Mensch! Das war ein Mann! Und wenn er auch gespielt und getrunken hat, er war ein herrlicher Mann. Ein Jammer, daß er so zugrunde gehen mußte… Und deine selige Mutter, die liegt wohl auch schon längst unter der Erde…”
Da zeigt Ole alle seine weißen Zähne: „Oh no no, Mama ist so lebendig wie du und ich, Jensine…”

 

Als Bibi ihrem Paps an diesem Abend den Gutenachtkuß gab, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Wie gefällt dir Ole? Hast du ihn schon lieb?”

Und ihr Paps flüsterte ihr ins Ohr: „Ja, er gefällt mir. Er ist aus dem Holz, aus dem der liebe Gott die Männer macht.”

 

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Publiziert am 01.04.2021
Name der Autorin: Karin Michaëlis (1872 – 1950)
Bibi – Leben eines kleinen Mädchens
Band 3: Bibi und Ole
Herausgeber und Vorwort: Thomas Horwath
Illustration & Cover: Judith Reßler
https://www.judithressler.at/
ISBN – 978-3-903037-43-4

Die Ausgabe dieses E-Books: Bibi – Leben eines kleinen Mädchens, Band 3: Bibi und Ole, bezieht sich auf die Originalausgabe des Herbert Stuffer Verlages – Berlin, aus dem Jahr 1931. Zur Dokumentation über die Abklärung der Rechte: Bitte diesen Link anklicken.