Bibi – Leben eines kleinen Mädchens – Band 5: Bibi in Dänemark

Band 5: Bibi in Dänemark

Herzlich willkommen in Bibis Welt. Bibi ist ein nun nicht mehr so kleines Mädchen mit blauen Augen, blonden Zöpfen und langen, dünnen Beinen. Sie lebt in Dänemark bei ihrem Vater, der ein angesehener Bahnhofsvorsteher ist und den Bibi über alles liebt. Die Mädchen sind nun alle groß genug ,um alleine auf Reisen zu gehen. Die Reise der Mädchen führt sie an die unterschiedlichsten Orte Dänemarks und erzählt von allen Eigenheiten dieser Orte und Eigentümlichkeiten ihrer Bewohner. Natürlich erleben sie dabei alle möglichen Abenteuer und es könnte wohl auch der einen oder anderen passieren, dass sie sich verliebt (oder so ähnlich).

Für Eltern:
In Skandinavien wird die Figur der Bibi als eine der Inspirationen zu Astrid Lindgrens (1907 – 2002) Pipi Langstrumpf gesehen. Während Pippi eine Welt erfindet, in der alle anderen sich mit ihr zurechtfinden müssen, erleben wir Bibis Abenteuer in der realen Welt, und wie sie damit zurechtkommt, ohne dabei ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Trotzdem sind beide unglaublich mutige Mädchen, die die Fähigkeit haben, alles in ihrer Umgebung auf den Kopf zu stellen. Ein Wunsch von vielen, der derzeit wohl nur im Roman zu verwirklichen ist.

Name der Autorin: Karin Michaëlis (1872 – 1950)
Bibi – Leben eines kleinen Mädchens
Band 5: Bibi in Dänemark
Herausgeber und Vorwort: Thomas Horwath
Illustration & Cover: Judith Reßler
http://www.judithressler.at/
ISBN – 978-3-903037-45-8

Leseprobe:

Bibi – Leben eines kleinen Mädchens

Band 5: Bibi in Dänemark

von Karin Michaëlis
Illustration: Judith Reßler

Liebe Bibifreundinnen,
liebe Bibifreunde und solche, die es noch werden,

es macht mir großen Spaß, in alten Buchhandlungen nach Büchern mit verborgenen Schätzen zu suchen. Meistens sind diese Bücher in einer so alten Schrift geschrieben, dass diese heute nur noch schwer zu entziffern ist. Mit diesem Buch ist es mir gelungen, einen Schatz zu finden, der schon fast 100 Jahre lang darauf gewartet hat, wiederentdeckt zu werden. Dieser Schatz ist nicht aus Gold und Silber, er besteht aus den Geschichten und Ideen, die in diesem Buch – Bibi in Dänemark – von Karin Michaëlis aufgeschrieben worden sind. Und es ist jetzt schon der fünfte Band. Ich denke, dass Karin viel von dem, was sie als Kind erlebt hat oder gerne erlebt hätte, Bibi in ihren Büchern erleben lässt. Beim ersten Lesen hatte ich eine so große Freude, dass es mir ein dringendes Bedürfnis geworden ist, daraus ein modernes Buch – ein E-Book – zu machen, um diesen Schatz nun mit allen Lesern und Leserinnen teilen zu dürfen.

Wir wissen alle, dass die Rechtschreibung sich hin und wieder ändert und das, was gestern richtig war, ist dann morgen ein Fehler und umgekehrt. Ich habe mich bemüht, die Schreibweise aus der Entstehungszeit des Buches so genau wie möglich zu übernehmen. Vor ca. 100 Jahren hat man ein paar Worte anders geschrieben, die ß/s/ss – Schreibung war beispielsweise ganz anders und im Buch findet ihr noch einige andere Beispiele mehr. Ich will jetzt nicht sagen, dass es falsch ist, denn damals war es ja richtig, ich möchte gerne sagen: Es ist zu einer Buchstaben-Zeitreisemaschine geworden. Dieser und der nächste und letzte Bibi-Band wurden ursprünglich bei dem Rascher Verlag in Zürich verlegt. Beim Lesen merkt man, dass es sich da um eine andere Art der deutschen Sprache handelt. Wir verstehen das natürlich, auch wenn es sich manchmal etwas hoppelig liest. So ist das, bei einer Buchstaben-Zeitreisemaschine, man weiß nie so ganz genau, wo sie rauskommt.

Bibi schreibt in den Büchern viele Briefe an ihren Paps. Nachdem es Bibi mit der Orthografie (Rechtschreibung) nicht ganz so genau nimmt, weil sie viel besser Zeichnen als Rechtschreiben kann, denke ich, es ist in Bibis Sinn, wenn ich sage: „Wer Rechtsschreibveler findet der darff sie auch behalden.” Karin meinte dazu, dass es oft so ist, dass jemand, der zu einer Sache hervorragend taugt, in einer anderen gar nicht gut ist. Das können erwachsene Leute nicht verstehen, aber Kinder können es, denn Kinder verstehen alles viel besser als Erwachsene. (Karin Michaëlis – Bibi: Kapitel 3 – Bibi geht auf Fahrt).

Ich weiß, was ich selber gut kann; ich kann gut Schätze in alten Büchern finden, denn jeder hat etwas, was er oder sie besonders gut kann. Und wenn wer was nicht kann, der kann das ja immer noch lernen.
Im Originalbuch gibt es viele Zeichnungen von Hedwig Collin, die fehlen hier. Wer mag, der kann mir eine Zeichnung zu dem schicken, was er oder sie in dem Buch gelesen hat und wenn einige Bilder zusammenkommen, dann machen wir daraus eine kleine Bibigalerie.
https://www.dieerzaehlwerkstatt.at/

Bibi und ihre Freundinnen sind älter geworden. In diesem Buch probieren sie einige neue Dinge aus. Unter anderem probieren sie auch aus, wie das ist, eine Zigarette zu rauchen. Heute, 100 Jahre später, weiß man, wie schädlich das für den Körper ist und wie viele Menschen im Jahr daran sterben. Damals, vor 100 Jahren, war es ein Zeichen für die Emanzipation und Selbstständigkeit von Frauen. Wenn man nun aber wegen dem Rauchen stirbt, dann hat man auch nicht mehr viel von Emanzipation und Selbstständigkeit, weder als Frau noch als Mann.

Früher wurden auch einige Wörter gesagt und geschrieben, die man heute nicht mehr sagt, weil sich Menschen dadurch schlecht behandelt fühlen oder weil sie beleidigend sind, und weil es gemein ist, andere Menschen so zu nennen. Weil wir inzwischen zum Glück alle gelernt haben, dass man einige Wörter nicht mehr sagt, hab’ ich diese Worte einfach ausgetauscht, in welche die nicht wehtun.

Nachdem ich das erste und das zweite und das dritte und das vierte und das fünfte Bibi-Buch gelesen hab’, habe ich die kleine Schwester vermisst, von der ich immer wusste, dass sie einmal da sein würde, die ich im echten Leben aber nicht habe.

Ich wünsch Euch ebenso viel Freude beim Lesen der Bibi-Bücher, wie ich es hatte.

Liebe Grüße
Thomas Horwath

PS: Ich hab’ natürlich noch eine Lieblingsstelle in diesem Buch – die müsst ihr auf jeden Fall gelesen haben, auch wenn ihr das Buch nicht kauft:
„Soll ich oder soll ich nicht?“ Bibi sah in das Heidekraut hinauf. Es war doch zu verlockend. Sie rüttelte an einem Büschel Erika, sie zog daran mit aller Macht, aber es hielt fest. „Ich glaube, ich versuch es mal, “ warf sie den andern hin. „Du bist wohl übergeschnappt! Das wird dir noch leid tun.“ Nun aber wollte Bibi erst recht. Wetten? Nein, dazu hatte nun doch keine den rechten Mut, denn gesetzt den Fall, daß Bibi gewann! Dann wird sie eben mit sich selber wetten. Ein Eskimoeis. Wenn sie verliert, kauft sie sich eines als Trost.
(Karin Michaëlis – Bibi in Dänemark: Kapitel 5 – Der Zuckerhut)

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel – Leise, leise, es naht der Tod…
2. Kapitel – Der ungetreue Diener.
3. Kapitel – Bibi handelt mit ihrem Paps.
4. Kapitel – Jensines Überraschung.
5. Kapitel – Der Zuckerhut.
6. Kapitel – Die Pfannkuchen.
7. Kapitel – Die Feuersbrunst.
8. Kapitel – Eine eklige halbe Stunde.
9. Kapitel – Jep und seine Frau.
10. Kapitel – Also wohin?
11. Kapitel – Es geht los!
12. Kapitel – Schwierigkeiten.
13. Kapitel – Schmuggler.
14. Kapitel – Quicksand.
15. Kapitel – Man bekommt ein eigenes Haus.
16. Kapitel – Die Überraschung.
17. Kapitel – Im Auto.
18. Kapitel – Wir dürfen mit!
19. Kapitel – Der große Fischfang.
20. Kapitel – Die seltsamen Männchen.
21. Kapitel – Was steht da oben auf dem Dach?
22. Kapitel – Die alte Sidsel. 1
23. Kapitel – Der Brief.

1. Kapitel – Leise, leise, es naht der Tod…

Nein, unmöglich, sie konnte nicht länger bleiben. Sie wagte es nicht. Denn der Tod kam gewandert mit seiner scharfen Sense, um ihren geliebten Großvater zu holen. Sie wagte es nicht, im Zimmer zu bleiben, wenn der Tod kam. Unmöglich. Unmöglich… Großmutter bat sie auch gar nicht darum, sondern sagte ganz im Gegenteil: „Geh nur, Kind, und laß mich allein mit ihm in seiner letzten Stunde.“

Bibi rannte gegen die Bäume an und die Bäume stießen auf sie. Sie jagte über die großen Rasenflächen. Sie suchte Schutz vor dem Tod, aber wo? Wo?

Plötzlich kletterte sie die alte Eiche hinauf, die schon den dreißigjährigen Krieg mitgemacht hatte. Sie hatte ihn sicher mitgemacht, denn der Anführer hatte ja selbst sein Pferd an den Stamm gebunden, der damals noch ganz dünn und biegsam gewesen war. Bibi kannte jeden Ast und jeden Zweig. Sie stieg hinauf wie auf einer Treppe höher und höher. Aber so hoch als Großvater jetzt bald kommen sollte, reichte der Baum ja doch nicht.

In Bibi war nur Platz für die große Angst vor dem Tod und für die Worte, die Großvater zu ihr gesprochen hatte. Für das Versprechen, das er von ihr verlangt hatte und das sie vor lauter Furcht nicht über die Lippen gebracht hatte. Warum hatte sie es ihm nicht gegeben? Weil sie feig war!

Wie entsetzlich, daß alle Menschen sterben mußten. Sie selbst wollte am liebsten tausend Jahre alt werden, um alle die unglaublichen Erfindungen mitzuerleben, die sicher noch gemacht wurden. Vor allem aber Oles Erfindungen. Sie sah hinaus über ganz Klinteborg. Sah das Schloß, das aus dem Wasser aufstieg, die schöne Eisenbrücke mit alle den roten Pelargonien, die wie zwei schmale Bänder das schwarze Gitter entlang liefen. Sie sah hinüber in das Labyrinth, auf den Springbrunnen und die Blutbuche, unter der immer noch der Vagabundenwagen stand. Und gleich daneben die vielen Glashäuser mit den Palmen, Feigen und Orangenbäumen, die ganz richtige kleine Früchte bekamen. Am herrlichsten aber dufteten doch die Blüten. Darum flocht man sie auch in Brautkränze ein. Großmutter hatte immer noch ihren Brautkranz und den Schleier, den die alten Frauen in Belgien viele, viele Jahre hindurch geklöppelt hatten… Warum mußte sie gerade jetzt daran denken? Ja, dieser Brautschleier hatte die Arbeit eines ganzen Lebens gekostet, deshalb rührte Großmutter ihn auch so vorsichtig an, als könnte er zerreißen, wenn man ihn nur ansah.

Was war das? War das eine Eule? Nein, es kam ja vom Schloß herüber. Es klang ganz wie Cäsars heulen. Warum sollte Cäsar heulen? Ein Schauer überlief Bibi. Ihr fiel ein, was der alte Knecht gestern Abend gesagt hatte: „Jetzt heult schon der Hund. Da ist es an der Zeit…“ Das war gestern Abend. So hatte also Cäsar bereits gestern abends gewußt, daß Großvater fort sollte von ihnen allen. Und den ganzen Tag war er heute unter dem Bett gelegen, ohne sich zu rühren, ohne einen Laut von sich zu geben. Er verließ seinen Herrn nicht. Er hatte keine Angst vor dem Tod. So wie er sollte man sein…

Und während Bibi oben in ihrer Eiche saß und auf Klinteborg sah, dessen Kupferdächer grün in der Sonne leuchteten, merkte sie eine seltsame Stille, die förmlich vom Himmel her niederglitt und aus der Erde emporschwebte. Eine Stille, die sich über jeden Baum, jeden Strauch und jeden kleinen Grashalm legte.

Sie hielt den Atem an: Nun war es geschehen. Eine Seele hatte ihre irdische Hülle verlassen und war schon unterwegs in die endlose Ewigkeit der Sterne. Gleich darauf hörte sie, daß Fenster im Schloß aufgerissen wurden, und zwar in dem Zimmer, in dem Großvater lag. Dann wieder Cäsars trostloses Heulen. Nun begannen auch die Glocken im Turm zu läuten. Und sie sah von ihrer Eiche aus, wie die Leute zusammenströmten. Sie gingen alle mit der Mütze in der Hand durch den Park, der ihnen sonst verboten war. So versammelten sie sich vor dem Schloß, um dort regungslos mit gesenktem Kopf auf Großmutter zu warten. Und Großmutter kam. Sie ging langsam, ach, so langsam, als verursachte jeder Schritt ihr die entsetzlichsten Qualen. So trat sie auf die Leute zu und sagte etwas, was Bibi nicht hören konnte, worauf die Männer eine Antwort murmelten. Dann ging einer nach dem andern zu ihr hin und reichte ihr die Hand. Bibi wartete, bis die Leute wieder fort waren, dann kletterte sie von ihrem Baum herunter und lief auf Großmutter zu.

Großmutter weinte gar nicht. Sie sagte nur: „Jetzt ist Großvater nicht mehr! Seine letzten Worte galten dir, Bibi. Ich soll dich an dein Versprechen erinnern. Nun mußt du aber gleich etwas essen, mein Kind, und dann ins Bett. Heute Nacht wache ich bei ihm. Er hat mir das Leben schön und reich gemacht.“

 

Und am nächsten Morgen…
Weiß, still liegt der alte Graf in seinem großen Himmelbett. Die langen schweren Seidenvorhänge sind zurückgeschlagen, sein Antlitz ist weißer als die Laken. Bibi steht in der Tür. Ihr Herz klopft heftig, sie wagt nicht zu atmen, um ihn nicht zu stören, obwohl sie doch weiß, daß sie diesen seinen letzten Schlaf gar nicht mehr stören kann.

Großmutter, die die ganze Nacht gewacht hat, geht herum und gibt ihre Aufträge, als wäre heute ein Tag wie jeder andere, Ihre Augen sind trocken, aber das Lächeln auf ihren feinen Zügen ist erstarrt, als wäre sie in einer so schrecklichen Kälte gewesen, daß dieses Lächeln nie mehr auftauen könnte.

Bibi muß daran denken, daß ihr Paps wohl auch so an der Tür gestanden hat, als ihre Mama steif und still dalag. Er aber hat sich sicher zu ihr hinein gewagt, oh, ganz bestimmt. Bibi beißt sich in die Zunge. Es tut weh, aber die Füße bewegen sich nun, Schritt für Schritt, ganz langsam nähert sie sich dem Bett. Da springen die Tränen förmlich aus ihren Augen, sie weint lautlos, die Knie sinken ihr ein, ganz von selbst. Und nun legt sie die Veilchen auf die beiden marmorweißen Hände, die so freundlich auf dem Laken liegen, nun flüstert sie: „Großvater! Lieber Großvater! Ich will sicher versuchen, ein anständiger Mensch zu werden, wie du es von mir verlangt hast. Ich will fleißig sein und lernen und… und…“

Ach sie hätte ja gerne noch viel, viel mehr gesagt, aber die Worte blieben ihr aus. Vielleicht war es auch gar nicht notwendig.
Da stand sie auf und nun sah sie erst richtig auf Großvater. Er lächelte ja. Ein kleines sanftes Lächeln, als hätte sie eben etwas gesagt, was er gerne hörte. Wirklich, er lächelte. Er war tot, aber er lächelte, Sie strich ihm über die Stirn, die zwar eisig kalt war, aber es graute ihr nicht. Wenn der Tod so aussah, dann war er ja gar nicht so arg und unheimlich, dann war er nur schön und friedlich. Bibi atmete tief und lächelte selbst. Nun wußte sie, daß sie sich nie, nie mehr vor dem Tod fürchten würde, mochte sie nun ebenso alt werden wie Großvater und Großmutter oder schon nächstes Jahr sterben.

Nachmittags saß Bibi dann in der großen Scheune, wo alle Tore geöffnet waren, um möglichst viel Licht herein zu lassen. An langen Tischen saßen der Schneider des Dorfes und sein Geselle und noch zwei Schneidermeister aus andern Dörfern und Näherinnen von nah und fern.

Die Schneider nahmen Maß und hatten dicke Rollen von blauem Fries vor sich liegen, die man vom Dachboden geholt hatte. Die Leute pflegten zwar sonst nicht mehr in Blau zu trauern, aber der alte Graf hatte am Tage vor seinem Tode selbst Auftrag gegeben, nachzusehen, ob keine Motten in die Friesrollen gekommen seien. Er wünschte nämlich, daß man genau so nach ihm Trauer tragen sollte, wie nach seinem Vater und Großvater. Und in alten Zeiten war es Sitte gewesen, daß alle Leute vom Hof einen blauen Friesanzug bekamen, wenn der Schloßherr in die Erde sollte.

Als dann nachmittags die Sonne schon tief am Himmel stand, war Bibi einen Sprung in der Küche unten, deren Fenster so tief lagen, daß die Küchenmädchen ihre Hände im Burggraben waschen konnten, anstatt erst Wasser in eine Waschschüssel zu gießen.

Herrgott, wurde hier gekocht und gebraten! Das war ja ganz wie vor einer großen Gesellschaft, wenn die Gäste von ganz Fünen herbeigefahren kamen, vierspännig und mit versilberten Geschirren, Diesmal aber galt es keinem fröhlichen Fest, sondern der Beisetzung des alten Grafen in der Familienkapelle.

Bibi war zwar wirklich furchtbar traurig, aber es ging ihr nicht anders als den meisten Menschen, sie hatte ungeheuer gern, wenn was passierte. Sie hatte gerne Spannung in der Luft. Und wahrhaftig, Spannung genug gab es heute.

Großmutter hatte angeordnet, daß der Sarg tags darauf zur Kirche getragen werden sollte, wenn die Mitternachtsglocken schlugen. So war es seit jeher Brauch und Sitte auf Klinteborg und das kam daher, daß die männlichen Nachkommen punkt Zwölf zu sterben pflegten. Bibis Großvater war eigentlich der erste, der gar nicht zur vorgeschriebenen Stunde gestorben war.

An diesem Abend ging also niemand mit den Hühnern zu Bett, wie es sonst auf dem Lande üblich ist, wo ja der Tag mit Sonnenaufgang beginnt. Die Leute vom Hof wurden im Gartenzimmer mit Wein und Kuchen bewirtet, worauf sie sich an den Wänden aufstellten und dort wie in Holz geschnitzt stehen blieben, während die Rosen mit den neuen Friesanzügen um die Wette dufteten und das Laub der Birkenzweige bei jedem kleinen Windzug erzitterte, der durch die vielen offenen Fenster kam. In den mannshohen Silberleuchtern brannten Wachskerzen und Bibi, die immer alle weißen Pferde, Sternschnuppen, Vagabunden und Fensterscheiben zählen mußte, konnte nicht anders, sie mußte, ob sie nun wollte oder nicht, auch diese brennenden Kerzen zählen.

Wie sanft und still sie leuchteten. Man hörte nur die Karpfen draußen aus dem Wasser springen, sonst war alles totenstill – abgesehen von Cäsars jämmerlichem Heulen, das überhaupt kein Ende nehmen wollte. Bibi ballte die Fäuste, daß die Nägel ihr ins Fleisch schnitten. Nein, es war nicht länger auszuhalten. Da ging sie herum und aß und trank und steckte überall die Nase hinein, weil sie doch alles sehen mußte, und des Nachts schlief sie fest und gut. Cäsar jedoch hatte seit Großvaters Tod nichts gegessen, keinen Schluck getrunken und lag immer noch klagend unter dem Bett, obwohl sein Herr schon im Sarg lag. Cäsar war treu, sie aber war treulos.

Bibi ging plötzlich auf Großmutter zu, die ein weißes Seidenkleid mit langem Spitzenschleier, der auf der Erde nachschleppte, trug. Sie hielt einen Strauß weißer Rosen in ihren Händen und ihre Augen blickten leer und tränenlos, Man merkte, daß sie um sich herum gar nichts mehr sah, daß sie nur zurücksah auf alles, was gewesen war. Bibi griff sich an den Hals, es würgte sie inwendig, als sollte sie ersticken: – Großmutter… meinst du nicht auch…daß Cäsar… so wie die Witwen in Indien… man müßte ihn ja nicht verbrennen… aber… aber… Großmutter, darf ich nicht zum Förster gehen… Er hat eine so sichere Hand… Und Cäsar ist ja nur mehr Haut und Knochen vor lauter Trauer… Darf ich ihn nicht bitten…
Großmutter nickte schwer und müde: Tu, was du willst, mein Kind.

Aber ehe Bibi noch zum Förster ging, lief sie zum letzten Mal in Großvaters Schlafzimmer. Auch dort brannten Kerzen in hohen Leuchtern. Die roten Vorhänge waren zurückgeschlagen von dem leeren Bett, mitten im Zimmer stand etwas erhöht, der mit schwarzem Samt bedeckte Sarg. Keine Blume lag darauf, nur ein kleiner welker Myrthenkranz. Bibi verstand sofort: Großmutters Brautkranz sollte ihrem Manne in sein Grab folgen.

Sonderbar, daß Cäsar so gar nicht unter dem Bett hervorkam. Als läge ihm nichts mehr an seinem Herrn dort im Sarg. Es war ja auch gar nicht mehr sein richtiger Herr, sondern etwas Kaltes, Fremdes mit einem Geruch, den nicht einmal Cäsars kluge Nase wieder erkannte. Bibi hatte keine Angst, sie rief und rief ihn immer wieder, leise und flehend, und als auch nicht das schwächste Jammern unter dem Bette zu hören war, bückte sie sich, um Cäsar noch einmal zum letzten Abschied zu streicheln. Aber der Cäsar, den ihre Hände berührten, war auch nicht mehr der richtige Cäsar, sondern etwas Steifes, unbeweglich Kaltes, das weder klagte noch zitterte. Cäsar war tot.

Bibi stand im Gartenzimmer neben dem großen Lehnstuhl der Großmutter und hielt sie so fest sie konnte an den Händen, als könnte sie ihr so am besten helfen. Denn jetzt brachte man den Sarg, Zuerst kamen alle Diener mit den vielarmigen Leuchtern, dann der Haushofmeister, dann der Sarg mit dem welken Brautkranz. Bibi fand einen Augenblick lang den Brautkranz ein bißchen dürftig, zu einem Sarg gehören doch viele Blumen, aber sie verstand Großmutter trotzdem. Denn wenn Großvater hätte sprechen können, so hätte er sicher gesagt: „Ich mache mir nur etwas aus dem welken Brautkranz.“
Aber was war denn das? Brannte der Hof? So ein Lichtermeer hatte Bibi nie mehr gesehen, seit es in der Kaserne gebrannt hatte und die Pferde die ganze Nachtlang durch die Straßen gerast waren. Es war weit lichter im Park als im Gartensaal, wo doch auch schon über hundert Kerzen brannten. Fackeln! Richtige, lebendige Fackeln, die sich bewegten, als ob sie atmeten. Und nun kam noch über die Brücke zwischen den beiden Reihen roter Pelargonien, die Simpson mit schwarzem Flor überwunden hatte, eine Schar weiß gekleideter kleiner Mädchen. Sie gingen so lautlos, als hätten sie keine Schuhe, erst in der Nähe merkte Bibi, daß sie alle weiße Turnschuhe trugen. Und sie sangen: „Wenn der Nebel einst verschwunden, der die Erde nun bedeckt.“ Sie streuten Blumen auf den Boden, ohne den Gesang zu unterbrechen, und stellten sich dann um den Sarg herum auf. Gut, daß der Gartensaal so groß war und so unendlich viele Menschen in ihm Platz finden konnten.
Großmutter stand wieder aufrecht wie eine Kerze, aber Bibi spürte in der Hand, daß sie in ihrem Innern zitterte und bebte wie ein sturmgepeitschter Zweig. Sie stand neben dem Sarg, faltete ihre Hände und sagte: „Ich danke dir für das, was du für Klinteborg, für deine Leute und für mich gewesen bist!“

Dann zogen die singenden Mädchen wieder über die Brücke und die ältesten Diener von Klinteborg hoben den Sarg auf ihre Schultern und trugen ihn hinaus. Hinter dem Sarg gingen Bibi und ihre Großmutter. Erst im Park draußen wurde er auf den Leichenwagen gehoben, worauf das Gefolge sich anschloß, und die Turmglocken zu läuten begannen, Schritt für Schritt bewegte der Zug sich in den stillen Abend hinaus, kein Vogel rührte sich in seinem Nest. Nur weit draußen in den Wiesen hörte man die großen Frösche so vergnüglich quaken, daß man merkte, sie hielten jetzt Hochzeit. Aber das schadete nichts, ganz im Gegenteil, es klang nur schön und feierlich.

Bibi dachte einen Augenblick daran, Großmutter zu sagen, daß ihr Kleid im Staube nachschleppte, aber da fiel ihr ein, daß es ja das Hochzeitskleid war, das Großmutter heute sicher zum letzten Male trug. Was lag also schon daran!
In allen Häusern, an denen man vorbeikam, standen Kerzen in den Fenstern und die Frauen verbeugten sich vor den Haustoren bis zur Erde, denn es war nicht Sitte, das auch Frauen zum Begräbnis gingen. Es dauerte unendlich lange, ehe man endlich auf den Kirchhof mit der weißen Kirche auf dem Hügel gelangte. Bibi klatschte beinahe in die Hände, als sie den ganzen Kirchhof wie einen großen brennenden Weihnachtsbaum vor sich liegen sah. Denn auf jedem einzelnen Grab brannten kleine Kerzen als letzter Gruß für den alten Herrn von allen denen, die ihm vorausgegangen waren.
Bibi wunderte sich ein wenig, daß die Orgel gar nicht spielte. Und daß auch kein Priester zu sehen war. Die Kirche war ganz leer und ungeschmückt.

Vor dem Altar wurde der Sarg aufgestellt, dem die weiß gekleideten Mädchen gefolgt waren. Der Haushofmeister klopfte dreimal mit seinem Stock auf den Boden. Dann sagte er nur: „Ehrenwache antreten!“ Und die alten Diener, die den Sarg getragen hatten, stellten sich mit niedergeschlagenen Augen wie zum Gebet neben dem Sarg auf. Großmutter hebt den welken Kranz vom Sarg, hält ihn einen Augenblick an ihre Lippen und flüstert etwas, was niemand hört. Leise, sehr leise schreitet man durch die Kirche zurück. Die Tore schließen sich . Draußen liegen in einem riesigen Haufen die noch rauchenden Fackeln. Und langsam wandert man nach Hause über die schlafende Landstraße. Alle Lichter sind erloschen. Die Hütten sind schwarz. Es ist tiefe Nacht.

Großmutter und Bibi sind ganz allein in dem großen Schloß. Großmutter fragt: „Bist du nicht müde, Bibi? Willst du nicht ins Bett?“ Da hat Bibi einen guten Einfall: „Großmutter, darf ich nicht heute Nacht bei dir schlafen?“ Großmutter sieh sie an: „Fürchtest du dich ?“ Da lächelt Bibi: „Warum soll ich mich fürchten? So wie Großvater jetzt schläft, werden wir ja alle einmal schlafen!“ Da lächelt nun auch Großmutter und drückt Bibi an sich: „Gott sei Dank, daß ich dich habe.“

2. Kapitel – Der ungetreue Diener.

Liebster Paps,
Großmutter meint zwar, ich soll lieber warten, bis ich nachhause komme, aber ich kann es Dir doch nicht geheim halten, nicht wahr. Paps, das kann ich wirklich nicht. Und Du mußt mir eines gleich versprechen, daß Du nie, niemals auf der Börse spielen, nein, richtiger heißt es, spekulieren wirst, denn das ist das gefährlichste, beinahe eben so gefährlich, wie wenn man anfängt, sich Morphin in den Arm zu spritzen, dann kann man nie mehr aufhören damit und stiehlt zum Schluß gefälschte Rezepte. Ich hab solche Angst, Du könntest damit schon angefangen haben und nun nimmst Du dazu das Geld für die Billetts und wenn dann eine Kassenrevision ist, so kommst Du wegen Unterschlagung ins Gefängnis. Du denkst doch nicht, daß ich Dich deswegen weniger lieb haben werde, und wenn du hundert Jahre im Gefängnis sitzest, ich liebe Dich nur immer mehr, ich besuche Dich dann und kratze an der Mauer, damit Du gleich weißt, daß ich es bin, und befreunde mich mit dem Gefangenenwärter, da kann ich Dir eine Feile hinein schmuggeln und du durchfeilst die Eisenstangen und draußen steh ich und warte mit dem Auto und dann sausen wir beide bis nach Amerika, ehe sie merken, daß Du durchgebrannt bist. Mir wäre es nur unangenehm wegen Mama, wenn du ins Gefängnis kämst, so was hätte sie riesig ungern gehabt und deshalb bitte ich Dich kniefällig, daß Du es nie, niemals versuchst.

Mir macht es gar nichts, daß ich nun arm werde, das sind ja so viele, und Ole findet, daß Erben überhaupt was unmögliches ist. Erben ist Unrecht. Warum sollte also gerade ich Klinteborg erben, wenn die meisten andern nicht einen Öre erben? Wenn Klinteborg nur nicht leer stehen wird, so wie das Gespensterhaus, und der Staub fällt auf alles, daß man schließlich überhaupt keine Farben sehen kann, nur ein schmutziges Grau, und die Spinnen ziehen ihre Netze in Mamas Zimmer, das sonst immer so schön war also nein, das möchte ich nicht. Und daß Mäuse kommen, die alles zernagen, auch das vergoldete Bett von Mama. Aber jetzt brauchst Du nicht zu erschrecken, so schlimm steht es nicht und Klinteborg soll nicht bei einer Zwangsauktion zu einem Spottpreis verkauft oder eingerissen oder zu einer Hochschule gemacht werden. Klinteborg soll bleiben, was es ist, nur daß niemand drin wohnt, und es kann viele, viele Jahre dauern, ehe die Administration genug Geld verdient hat, um die Schulden zu bezahlen, bis dahin bin ich schon längst tot und gestorben. Großmutter darf weiter auf Klinteborg bleiben, bis zu ihrem Tod, aber sie will gar nicht, denn wo soll sie nur das Geld hernehmen für alle die Leute, die Kammerjungfer und die Diener und die Haushälterin? Großmutter zieht daher bald in das Verwalterhaus, das leer steht, es ist ganz niedrig, aber die Mauern sind so schön mit wildem Wein überwachsen und man sieht auch ein bißchen was vom Park. Und Großmutter wird ihre Kammerjungfer behalten, denn die will nicht weg von Großmutter, und wenn sie auch nicht einen Öre Lohn bekommt, das hat sie mir selbst gesagt, und dann werden sie vielleicht noch jemanden haben, der ihnen kocht. Jetzt will ich aber vom Anfang an beginnen, das war also gestern, da kam Rechtsanwalt Balle (Du weißt doch, der, der auf Großmamas Sachen aufpassen soll, so wie ein Vormund für Waisenkinder) urplötzlich angestiegen, ohne daß Großmama nach ihm geschickt hatte. Als Großvater gestorben und das Testament eröffnet war, da war er mit Großmutter in die Stadt gefahren, um Großvaters Papiere aus dem Safe zu holen und alles zu ordnen, Er war so komisch, als er herein kam, ganz als sollte er wieder zu einem Begräbnis kommen, und wir wollten gerade zu Tisch gehen und da aß er mit, sagte aber gar nichts besonderes, sondern quatschte nur was von einer Reise nach Spanien, wo ich auch gerne einmal hin möchte, vor allem wegen der Alhambra, und nachher gingen wir in den grünen Salon. Herr Balle sah mich an und dann sah er auf Großmutter, ich dachte schon, nun werde ich hinaus geschmissen, und ich wollte doch so rasend gerne bleiben, um zu hören, womit er nun heraus rückte. Aber Großmutter sagte: „Bibi kann ruhig da bleiben. Sie ist doch schon ein großes und vernünftiges Mädchen.“

Nun sagte niemand mehr was und ein Engel ging durch das Zimmer. Dann aber begann er: „Euer Gnaden werden wohl erraten haben, daß ich etwas Wichtiges auf dem Herzen habe, da ich so ungerufen komme.“ Großmutter senkte den Kopf, als wollte sie sagen: „Red jetzt nur frisch von der Leber weg, aber beeil dich ein bißchen!“ Und da verhörte er sie nun auf einmal wie bei Gericht, ob sie über Großvaters Geschäfte auch genügend unterrichtet sei. Geschäfte – was das nur für ein Wort ist! Das war sie also überhaupt nicht, denn dafür hatte sie ja den Gutsverwalter, und wenn der Rechtsanwalt einen Bescheid brauchte, so könnte sie ja nach dem Verwalter schicken. Der Anwalt aber – er hat so einen komischen schwarzen Spitzbart und sieht überhaupt aus wie der Pickbub auf den Karten, die Du aus Ägypten brachtest – Herr Balle also guckte auf seine Nägel, die waren ganz rein, und dann sagte er: „Euer Gnaden müssen auf schlimme Nachricht gefaßt sein.“ Großmutter richtete sich auf: „Seit mein Mann tot ist, glaube ich kaum, daß mir noch etwas großen Eindruck machen kann. Sie brauchen meine Nerven nicht zu schonen.“ Und wieder ging so ein Engel durchs Zimmer, es war richtig unheimlich, warum konnte er aber auch nicht schon endlich losschießen. Er füllte den Mund mit Luft und dann sagte er: „Es gibt verschiedenes in der Hinterlassenschaft des Herrn Grafen, was nicht stimmt. Wissen Euer Gnaden, ob der Herr Graf sich voll und ganz auf den Gutsverwalter verließ?“

Da hättest Du Großmutter sehen sollen. Sie war wie eine Furie. Und sie klopfte mit ihrem Stock auf dem Fußboden: „Ich verbiete Ihnen und jedem andern, eine solche Frage zu stellen. Der Gutsverwalter war seit jeher ein treuer Freund und Diener meines Mannes. Mein Mann hat nicht ein einziges Geheimnis vor ihm gehabt, er behandelte ihn wie seinen eigenen Bruder. Wenn irgend etwas bei der Hinterlassenschaft nicht stimmt, so müssen Sie die Ursache wo anders suchen!“
Der Mann mit dem Spitzbart bekam ganz rote Backen, er war wohl nicht gewöhnt, daß man so mit ihm umging. Ich konnte merken, wie er schon auffahren wollte, sich aber noch rasch in die Lippen biß. Großmutter sagte auch nichts mehr. Und die Uhr tickte die ganze Zeit. Es war wirklich ekelhaft. Dann sagte er: „Euer Gnaden entschuldigen, wenn ich mich für heute Abend zurückziehe. Aber ich erbitte mir für morgen eine Unterredung mit dem Gutsverwalter und zwar in Anwesenheit von Euer Gnaden!“

Großmutter stand auf und sagte: „Dann sehen wir uns also morgen!“ Und der Rechtsanwalt ging auf sein Zimmer, das liegt gleich unter dem von Mama, ich konnte daher hören, wie er auf und ab lief, bis ich einschlief.
Und nun erzähle ich Dir von heute. Ach, Paps, Du kannst mir glauben, das war ein schlimmer Tag für Großmutter und mich… und für noch einen andern, aber für den war er wohl am schlimmsten. Und er tut mir so leid, ich glaube gar nicht, daß er es mit Absicht getan hat. Wir saßen eben beim Morgenkaffee, da kam Herr Balle, der auf seinem Zimmer gefrühstückt hatte, und er stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür und er sagte, was für schönes Wetter heute sei. Großmutter nickte bloß, denn sie war immer noch böse auf ihn. Kurz darauf redete er eine Menge von der Majorität oder Majorarität oder wie das heißt, Du wirst schon wissen, und von einem Gesetz, daß die Regierung nun Geld braucht, um staatliche Landwirtschaften einzurichten. Da geben sie den Leuten je fünfzehn oder zwanzig Hektaren Land und ein bißchen Geld, um Haus und Ställe zu bauen. Und wo soll die Regierung das Land hernehmen? Die nimmt es von den großen Gütern und da Klinteborg eines der allergrößten ist, will sie von ihm ein ordentliches Stück.

Das wußte ich auch, Großmutter hatte mir davon schon erzählt, aber wir haben ja Land genug. Nun war da aber noch etwas, was Großmutter nicht wußte, denn Großvater hatte vergessen, ihr davon zu erzählen. Abgesehen, von dem Stück Land, das man hergeben muß, muß man auch noch einen rasenden Haufen Geld zahlen, wieviel, kann ich mich nicht mehr erinnern. Großmutter sagte zu Herrn Balle: „Besprechen Sie das doch bitte mit dem Gutsverwalter, er ist mein geschäftliches Gewissen.“ Da machte Herr Balle aber ein beinahe böses Gesicht und sagte ganz gerade aus: „Ich sehe mich genötigt, Euer Gnaden mitzuteilen, daß es eine bekannte Tatsache ist, daß der Gutsverwalter ganz wild auf der Börse spielt.“
Großmutter wurde sehr steif: „Ich finde, daß das eine Privatangelegenheit des Gutsverwalters ist. Ob er auf der Börse spielt oder nicht, geht mich nichts an.“ Großmutter war gar nicht nett mit Herrn Balle, eigentlich darf man sich so gegen einen Gast nicht benehmen, meinst Du nicht auch, Paps? Und weißt Du, was er nun sagte: „Ich bin in einer äußerst peinlichen Angelegenheit hergekommen und Euer Gnaden machen es nur noch peinlicher für mich! Ich bitte, den Gutsverwalter holen zu lassen. Er soll alle Abrechnungen mitbringen.“

Großmutter antwortete gar nicht, sie klingelte nur und schickte nach dem Verwalter. Es dauerte furchtbar lange, bis er kam, ich hatte schon richtiges Herzklopfen. Dann kam er endlich. Ach, Paps, wenn Du ihn gesehen hättest… Sonst ging er immer so kerzengerade, ganz so wie Großmutter, aber heute war er wie bucklig und die Beine schleift er ordentlich nach.
Großmutter lächelte ihm zu, streckte ihm die Hand hin und sagte: „Guten Morgen, lieber Freund!“ Er aber nahm Großmutters Hand nicht… er traute sich nicht! Er legte eine große dicke Mappe vor Großmutter auf den Tisch und dann verbeugte er sich, so tief, so tief, daß ich dachte, nun fällt er vornüber. Großmutter bat ihn, Platz zu nehmen, aber er schüttelte den Kopf, müde und schwer: „Man wartet drüben auf mich!“ Sonst sagte er nichts. Und als er ging, war es, als hätte er einen Mühlstein um den Hals, und ich spürte es ganz genau, daß der mit dem Spitzbart recht hatte. Aber ich war trotzdem furchtbar böse auf ihn, ich hätte ihn ermorden können. Am liebsten wäre ich dem armen Gutsverwalter nachgelaufen, um ihm was nettes zu sagen, aber ich bin doch so ekelhaft neugierig, und da kannst Du Dir denken, wie gespannt ich war, was jetzt kommen würde. Herr Balle ging nun an die Mappe heran, die war voll mit Dokumenten und außerdem steckte in ihr ein großes Buch, wohl ein Wirtschaftsbuch, in dem blätterte er und manchmal hielt er es dicht an die Augen.

Großmutter tat immer noch, als ob sie Kaffee tränke, dabei hatte sie keinen Tropfen in der Tasse, und sie zerkrümelte ihren Zwieback, anstatt ihn in den Mund zu stecken. Und die Karpfen sprangen wie wild im Graben, sie sind ja gewöhnt, daß sie von mir was bekommen, da ging ich denn hinaus auf die Brücke und warf ein bißchen Brot ins Wasser, aber ich konnte dabei trotzdem ganz gut hören, daß weder Großmutter noch Herr Balle eine Sterbenssilbe sagte. Und dann… Paps, das war beinahe eben so fürchterlich wie damals, als die Falltür zufiel und wir in dem unterirdischen Gewölbe gefangen waren.
Er sagte: „Wenn ich Sie mit der Mitteilung verschonen könnte, Gott ist mein Zeuge, ich würde es tun… Der Mann, auf den Sie und der Graf sich verließen, ist ein Schwindler, ein Lump und Betrüger…“

Großmutter ließ ihre Tasse los und wurde weiß wie ein Taschentuch, sie sank zusammen in ihrem Stuhl. Ihr Stock fiel zu Boden und als ich auf sie zulief, um ihre Hand zu nehmen, war die eiskalt. Der Mann mit dem Spitzbart aber redete trotzdem weiter: „Es übertrifft meine schlimmsten Vermutungen. Der Gutsverwalter hat Sie und Ihren Mann nicht nur um das Kapital, sondern auch um die Aktien betrogen, über die er verfügen konnte. Dies Buch hier ist eine einzige Fälschung. Wenn Euer Gnaden einverstanden sind, werde ich sofort dafür Sorge tragen, daß der Mann verhaftet wird.“
Da stand Großmutter auf, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten konnte, und um ihren Mund zitterte es wie bei einem Kaninchen, wenn es Kohl knabbert: „Niemand darf verhaftet werden, niemand…“
Herr Balle verbeugte sich: „Ganz wie Euer Gnaden es wünschen. Aber dann wasche ich meine Hände in Unschuld. Und somit ziehe ich mich zurück.“

Großmutter klammerte sich an mich und ich war so unglücklich, daß ich beinahe zu heulen begann, aber da Großmutter so stark war, versuchte auch ich, stark zu sein, und ich fand es ja so schön von Großmutter. Als aber Balle nun gehen wollte, machte Großmutter eine Handbewegung, daß er bleiben solle: „Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Herr Rechtsanwalt.“ Er küßte Großmutter die Hand und, denk Dir, Paps, dabei hatte er richtige Tränen in den Augen, da ist er also doch ein guter Mensch, nicht wahr?

Großmutter sagte, so leise, daß man es beinahe nicht hören konnte: „Nun kann ich mich auf keinen Menschen in der Welt mehr verlassen, denn das hätte ich nie für möglich gehalten.“ Auf mich kannst Du Dich aber trotzdem verlassen, Paps, und ich verlasse mich auch auf Dich, wir beide werden uns immer und ewig auf einander verlassen. Großmutter hätte schon auch sagen können, daß sie sich ein kleines bißchen auf mich verläßt, meinst Du nicht auch? Sie klingelte dann und ließ schwarzen Portwein kommen, auch Herr Balle trank ein Glas, und sie kam langsam wieder zu sich, denn es war ihr wohl sehr schlecht gewesen. „Erzählen Sie mir bitte alles, was Sie wissen!“ Was er dann redete, konnte ich nicht so ganz verstehen, ich hörte auch nicht sehr aufmerksam zu, aber Großmutter erzählte mir später alles noch einmal, weil es mich ja schließlich auch etwas angeht. Zuletzt sagte Großmutter dann zu mir: „Das hat mich in meinem Lebensnerv getroffen (ich weiß gar nicht, wo der steckt) und jetzt ist es wohl bald vorbei mit mir.“

Großmutter sitzt jetzt an ihrem Bett und starrt vor sich hin. Wenn sie nur weinen könnte, aber das kann sie wohl nicht. Und ich sollte schlafen gehen, und essen wollte sie auch nicht, und ich konnte doch nach dem allen nicht allein bei Tisch sitzen, denn Herr Balle war inzwischen nachhause gefahren. Jetzt bin ich rasend hungrig, aber essen kann ich nicht, der Bissen bleibt mir im Hals stecken, wie damals, als ich die greulichen Flecken drin hatte, nur ein Glück, daß, es dann doch keine Diphterie war. Großmutter war so lieb und es tat ihr so leid, daß ich nun arm sein sollte, aber ich sagte, ich pfeif darauf, nein, das sagte ich natürlich nicht vor Großmutter, ich sagte nur, ich mach mir nichts draus und ich werde mich schon durchbringen. Und Ole ist ja so furchtbar tüchtig, der verdient noch Geld für uns alle, und wenn ich erwachsen bin, kann ich ja auch Geld verdienen. Du kannst Gift drauf nehmen, daß ich jetzt fleißig sein werde, paß auf, ich mache noch mein Abitur mit Auszeichnung und dann krieg ich einen Freiplatz auf der Universität, ich bin gar nicht so dumm, nur etwas faul, aber dagegen läßt sich ja was machen. Ich glaube, Großmutter denkt überhaupt nicht an sich, sondern nur an den Gutsverwalter und was aus dem jetzt werden soll. Hier kann er nicht bleiben und es kommt wohl auch in die Zeitungen, selbst wenn er nicht verhaftet wird. Du darfst wirklich niemals auf der Börse spielen, Paps! Ich weiß auch, wie es bei ihm gekommen ist. Denn Herr Balle sagte, es sei ganz undenkbar, daß Großvater je gesehen habe, worunter er seinen Namen setzte. Der Gutsverwalter kam beinahe jeden Tag, wenn wir zu Tisch gehen wollten, und dann hatte er es immer besonders eilig, da guckte Großvater gar nicht erst auf das Papier, sondern unterschrieb nur, wo der Gutsverwalter hin zeigte. Aber ich glaube nicht, daß das böse Absicht war, er dachte sicher immer, daß er doch noch einmal auf der Börse gewinnen und dann alles zurückzahlen wird. Ach, ich kann gar nicht vergessen, wie er aussah. Förmlich als ob er mit dem Rücken weinte.
Nun will ich versuchen zu schlafen. Gute Nacht, Paps, lieber, süßer, einziger Paps, der bestimmt nie, nie auf der Börse spielen wird.
Bibi,
die morgen nach Hause kommt, denn länger hält sie es nicht aus ohne Dich.

Lieber Paps,
ich komme morgen, aber ich schreibe Dir trotzdem noch heute, denn ich kann es nicht für mich behalten. Ich hab so ein scheußliches Gefühl im Mund, die Zähne klappern, aber ich friere nicht. Es ist nur, weil ich ihn so liegen sah, und wenn ich gleich nach dem Aufwachen in den Park gegangen wäre, dann, dann vielleicht… Paps, meinst Du nicht auch, daß es beinahe schon meine Schuld ist? Denn ich lag da und dachte an meine liebe Mama und wenn Du nun ein Schwindler und Lump und das alles geworden wärst… Und es war noch nicht ganz hell, aber ich konnte doch nicht mehr einschlafen. Und da stellte ich mich an das Fenster und ich sah ganz gut, daß jemand drüben auf das Labyrinth zuging, und einen Augenblick dachte ich auch, das ist doch er. Und ich dachte auch, ob ich nicht mit dem Bademantel über dem Nachthemd hinunter laufen sollte, aber dann dachte ich wieder, vielleicht ist er’s gar nicht, und ich fürchte mich ein wenig im Park, wenn es dunkel ist. Und dann, Paps…der Himmel war ein bißchen rot, aber die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, und dann… Nein, nein, es tut mir so weh… es war gar kein lauter Knall und es hätte ganz gut auch nur ein Pneu sein können drüben in der Schmiede. Aber ich wußte sofort: das ist jetzt er. Und da durfte ich doch nicht länger warten. Ich vergaß meinen Bademantel, ich lief über die Brücke, zweimal stolperte ich auch und schlug mir die Nase an, und ich suchte überall, aber ich fand niemanden. Ach, ich war schon ganz glücklich. Da aber fiel mir das Labyrinth ein. Es war, als ob jemand anderer sagte: „Du mußt hinein, ob du willst oder nicht.“

Und ganz mitten drin, da lag er auf dem Rücken. Paps, es ist ja nicht, weil er tot ist, das sind so viele Menschen und ich vergesse es immer wieder, auch wenn ich sie sehr gerne hatte, so wie Großvater. Aber das im Labyrinth werde ich niemals vergessen. Paps, ich möchte mich jetzt an Dir fest halten und Dich nie, nie wieder loslassen. Denk Dir, daß ein Mensch so traurig und so verzweifelt sein kann, daß er gar nicht mehr leben will und sich erschießt, obwohl er Frau und Kinder hat. Und da ging er herum den ganzen Tag und den ganzen Abend und die ganze Nacht und vielleicht hatte er auch Angst, zu sterben, und vielleicht traute er sich nicht, seiner Frau zu gestehen, daß er ein Betrüger ist… Wär’ ich doch gleich in den Park gegangen!… Denn wenn er dann gesagt hätte: ich kann das Leben nicht mehr aushalten und ich muß sterben, dann hätte ich ihm sagen können, daß Großmutter gar nicht böse auf ihn ist und daß es gar nicht so viel macht und daß er sich nicht so furchtbar kränken soll… Ich weiß nicht, wie ich das gesagt hätte, und ich weiß auch nicht, ob es etwas genützt hätte, aber ich finde es so entsetzlich, daß er gar so allein war… Und niemand war bei ihm, niemand hat ihn getröstet… Ich hatte gar keine Angst, Paps, wirklich nicht. Ich streichelte seine Hände und ich sagte ihm ins Ohr, daß ich mich gar nicht vor ihm fürchte. Nur als ich ihm einen Kuß geben wollte, da graute mir und das konnte ich nicht… Du findest doch nicht, daß ich in das Verwalterhaus hätte laufen sollen? Ich konnte doch seine Frau nicht wecken, um ihr zu sagen… Ich hörte einen der Gärtner mit der Grasmaschine und da ging ich zu ihm und sagte es ihm, und dann ging ich auch gleich zu Großmutter, aber ihr sagte ich eine Lüge, daß es ein Herzschlag gewesen sei. Sonst wäre es doch gar zu arg für sie gewesen. Und Großmutter war den ganzen Vormittag bei seiner Frau und Großmutter hat gesagt, daß der Gärtner alle Rosen aus den Treibhäusern pflücken soll, denn er sei der Freund ihres Mannes gewesen. Ich bin stolz auf Großmutter. So hätte sicher auch meine Mama gehandelt. Und Großmutter ist Hand in Hand mit mir durch den Park gegangen, ins Labyrinth aber ging sie allein, und als sie heraus kam, weinte sie, aber ich glaube, das tat ihr wohl. Und nun sollst Du noch hören, was Großmutter sich vorgenommen hat. Sie will all ihren Schmuck und ihre Spitzen und Bilder und Gobelins verkaufen, damit die Leute nicht um das Geld betrogen werden, das Großvater ihnen in seinem Testament zugedacht hat. Sie hat mich nur erst gefragt, ob es mir recht sei, denn eigentlich gehört alles mir. Na, Du weißt ja, was ich mir aus Schmuck und Bildern mache, die kann ich ja selbst einmal malen, die Bilder nämlich, und in die Gobelins kommen nur die Motten, wenn Klinteborg nicht mehr bewohnt sein wird. Aber ich habe Großmutter versprochen, daß ich das Abitur machen werde, um dann Landwirtschaft zu studieren, denn wenn ich selbst auch nicht auf Klinteborg wohnen werde, so kann ich doch das Gut bewirtschaften und damit einmal auch die Schulden zahlen. Nur darf es keine Menschenseele wissen. Ich habe auch an Herrn Balle geschrieben, daß er ja nicht ein Wort von dem allen verraten soll, denn wenn man sich schon aus Schmerz und Trauer erschießt, so hat man doch mehr gesühnt als durch noch so viele Jahre Gefängnis, da brauchen die Leute nicht auch noch Schlechtes über einen reden…

Ist es nicht merkwürdig, Paps, ich habe mir früher gar nichts aus dem Gutsverwalter gemacht, er war immer so steif und langweilig, man konnte nie seinen Spaß mit ihm treiben, jetzt aber habe ich ihn so gerne, daß ich es in allen Knochen spüre. Nicht wahr, Paps, wenn ich nach Hause komme, so gibst Du mir diesmal ein Schlafpulver, denn ich möchte gerne lange, lange schlafen und ein bißchen was von dem allen vergessen.
Deine Bibi

3. Kapitel – Bibi handelt mit ihrem Paps.

„Du, Paps, du kennst doch die Geschichte „Was Vater tut, ist immer das richtige?“

„Ich habe sicher davon gehört, aber ich kann mich nicht genau erinnern.“

„Dann muß ich sie dir also erzählen. Es war einmal ein Bauer, der fuhr mit seinem Pferd zum Markt, um es dort zu verkaufen und einen Haufen Geld dafür zu bekommen, Da trifft er einen andern Mann, der hat eine Kuh, und da tauscht er die Kuh gegen das Pferd ein. Na, und es dauert nicht lange, so trifft er einen Mann mit einem Schwein und da tauscht er das

Schwein gegen die Kuh ein. Erinnerst du dich jetzt?“

„Erzähl nur weiter!“

„Ja, und so tauscht er eben immer weiter und für das Schwein kriegt er eine Gans und für die Gans, wart nur, ja richtig, für die Gans kriegt er einen Sack mit faulen Äpfeln. Den Sack schleppt er nachhause und dort erzählter seiner Frau, wie er immer getauscht hat. Und sie sagt immer wieder: Das ist ja großartig. Denn, was Vater tut, ist immer das richtige. Sogar von den verfaulten Äpfeln ist sie begeistert. Das ist doch eine nette Frau, meinst du nicht auch?“

„Jetzt möchte ich aber schon gerne wissen, wo du mit dieser Geschichte hinaus willst.“

„Weißt du, ich möchte nämlich so furchtbar gerne, daß du auch so bist wie diese Frau und daß du jetzt sagst: „was Bibi tut, ist immer das richtige.“ Paps, süßer Paps, sei lieb und sag das sofort!“

„Meinst du nicht auch, daß das ein bißchen gefährlich für mich werden kann?“

„Ja… aber deshalb beginne ich eben mit dieser Geschichte.“

„Hör mal, Bibi, du hast ja schon so alles mögliche angestellt, Schieß lieber gleich los. Ich bin auf alles gefaßt.“

„Sag jetzt zuerst: „was Bibi tut, ist immer das richtige, “ und wenn es auch komplett verrückt ist.“

„Du machst mich unruhig. So sprich doch schon endlich.“

„Wenn du dann aber mit mir schimpfst – “

„Schimpf ich denn gar so arg, Bibi?“

„Nein, das ist es auch nicht. Du schimpfst fast nie, aber wenn du so schaust und überhaupt es ist mehr inwendig und das ist viel schlimmer. Sag doch jetzt endlich: „was Bibi tut, ist –

„Bibi, auf meinem alten Haupt sträuben sich langsam die Haare – “

„Wenn du alt sagst, erzähl ich dir überhaupt nichts. Dann küße ich dich nur einfach ab, von oben nach unten und von rechts und links, bis du sagst, daß du wieder ganz jung bist, Wenn du jetzt aber sagst: „was Bibi tut, ist immer das richtige, “ so erfährst du mein Geheimnis sofort. Also eins, zwei, drei – “

„Du weißt ganz gut, Bibi, daß man niemals versprechen soll, was man vielleicht nicht halten kann. Und wenn ich jetzt ja sage, weil du mich so quälst, und wenn ich mein Wort zurück nehmen muß – “

„Ah Gott, was ist da schon dabei! Es ist gerade lustig, wenn man ja zu was sagt, ohne daß man auch nur eine Spur von einer Idee von einer Ahnung hat, worum es sich handelt.“

„Man soll aber doch auch halten, was man verspricht!“

„Ja, und das ist nicht immer vergnüglich. Weiß du noch, wie ich so zu Ulla ungeschaut ja sagte, und dann wollte sie meine Schildkröte haben. Aber schmecks! Man kann doch ein Lebewesen nicht einfach verschenken, ohne es erst um seine Einwilligung zu fragen. Lieber, süßer, einziger Paps, sag es doch endlich. Wir kommen nicht von der Stelle, ehe du es gesagt hast. Und du brauchst gar keine Angst zu haben, es hat nichts mit der Schule zu tun oder mit der Polizei oder mit sonst was unangenehmem, nein, wirklich nicht, du wirst höchstens ein bißchen erschrecken, aber nur im ersten Moment, und dann wirst du vielleicht sagen: warum hast du mich denn nicht erst gefragt?“

„Hör mal, Bibi, nun hab ich aber genug. Und wenn du mir nicht sofort erzählst, was das wieder für ein Narrenstreich ist, so nehme ich meinen Hut und geh in mein Bureau und die Türe wird abgesperrt und damit Schluß …“

„Mein Gott, kannst du aber ekelhaft sein! Wo du doch nur eine einzige Tochter hast. Wirklich, Paps, du solltest dich schämen. Du zwingst mich ja.“

„Ich kann auch gehen.“

„Also weißt du… also… es kam nämlich so… Nein, ich will lieber ganz anders anfangen. Möchtest du nicht ein Geschäft mit mir machen? Ich bezahle bar, gleich aus der Bank heraus.“

„Gott bewahre mich vor deinen Geschäften, die sind mir immer höchst verdächtig. Aber wenn du bar bezahlst, so können wir vielleicht handelseins werden.“

„Kannst dich verlassen, Paps. Also, das Stückchen Wiese hinter unserem Garten, das brauchst du doch wirklich nicht, nicht wahr, Paps?“

„Nicht daß ich wüßte.“
„Denn damals, als du es an Jepsen, den Dienstmann verpachtet hattest, vergaß er immer, das Geld zu bezahlen und Weichensteller Andersen sagt, es sei zu weit für seine Frau. Sie kann nicht dreimal im Tag herüberlaufen, um die Kuh zu melken, außerdem kann er seine Kuh genau so gut beim Viadukt weiden lassen, dort gibt es herrliches Gras. Und die Wiese möchte ich eben rasend gerne selber haben.“

„Das heißt, du willst meine Wiese pachten. Und wozu, wenn ich fragen darf?“

„Wozu, wozu. So fragt man nicht, wenn man ein Geschäft machen will. Und ich bin nicht schäbig, du bekommst, es sie anständig bezahlt. Was ist das mindeste, was du verlangst?“

„Das mindeste?“
„Ich biete zwanzig Kronen, das ist ganz annehmbar. Zwanzig Kronen bar, aus meinem Sparkassebuch.“

„Und wenn mir das zu wenig ist?“

„Dann handle ich mit dir, aber es ist nicht schön, wenn man so schmutzig ist, ganz wie der Geizkragen, dieser Kaffeehansen, der läßt seine Kinder Hundedreck an die Apotheke verkaufen, obwohl er doch so unverschämt reich ist. Zwanzig Kronen sind viel Geld, du könntest ruhig sofort einschlagen.“

„Ist es denn so eilig?“

„Ich muß die Wiese heute noch haben. Unbedingt. Oder willst du vielleicht so ein Scheusal sein wie der Kerl, der ein Pfund lebendes Menschenfleisch verlangte, dann bitte, dann meinetwegen, dann kannst du auch fünfundzwanzig Kronen haben… denn ich muß und werde die Wiese bekommen.“

„Hast du vielleicht die Absicht, zu bauen?“

„Zu bauen? Nein, wozu sollte ich bauen? Hier ist doch Platz genug für mich, wenn du nicht plötzlich eine Wut auf mich kriegst und mich hinauswirfst, so wie der Apotheker, der seinen Sohn bis nach Amerika hinauswarf, nur weil er einen falschen Wechsel unterschrieben hatte, ist das nicht gemein?“

„Bleiben wir jetzt bei der Sache. Wechselfälschen ist übrigens etwas sehr arges, darüber können wir ein andermal sprechen. Du willst also bauen. Hast du dir vielleicht, eine Brutmaschine gekauft, um jetzt eine Geflügelzucht einzurichten?“

„Eine Brutmaschine! Ich finde es immer so niederträchtig, daß man die armen Kücken aus den Eiern herauslockt und dann haben sie keine Mutter und nicht ein bißchen von einem Flügel, unter dem sie unterkriechen können.“

„Dann willst du eine Martinsgans dort grasen lassen? Oder vielleicht einen Ziegenbock?“

„Es ist weder eine Gans noch ein Ziegenbock.Es ist was viel, viel größeres.“

„Bibi, um Gotteswillen, du hast dir doch nicht einen Elefanten angeschafft?“

„Nun darfst du keine Witze machen, Paps, denn es handelt sich um etwas sehr, sehr ernstes, ich habe so geheult, bis ich auf die Idee mit der Wiese kam. Es konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, so verhungert war es, du hättest ihm die Finger zwischen die Rippen stecken können. Und der infame Schurke schlug ihm ins Gesicht, ganz blind war es auf einem Auge und das andere war so rot wie Blut… Oh, ich hätte den Kerl ermorden können. Und dann lachte er mich noch aus, als ich ihm sagte, ich würde ihn anzeigen, ich würde schon sorgen, daß er ins Kittchen käme. Ich ging ihm nach und ich schimpfte immer weiter, es waren sogar ganz abscheuliche Worte, aber er lachte nur… Dieser Lump! Nur ein Glück, daß ich den Pferdeschlächter kenne, du weißt ja, seit wann, und wir stehen sehr gut miteinander. Und nachdem er das arme alte Pferd für dreißig Kronen gekauft hatte, bot ich ihm fünfunddreißig. Er wollte nicht gleich, das ganze war ihm nicht geheuer, aber ich sagte, er käme schnurstracks in die Hölle und auf seinem Totenbett würde er es noch bereuen und ich möchte nicht an seiner Stelle ein armes altes und wehrloses Pferd erschlagen, das sich noch nie im Leben satt gegessen hat und gänzlich verprügelt und verschüchtert ist. Weißt du, der Wagen war so schwer, den konnte es überhaupt nicht mehr ziehen…“ Bibi ging der Atem aus und sie begann so jämmerlich zu schluchzen, daß ihr Paps es nicht aushalten konnte.

„Jetzt trockne deine Augen und sei mein großes und vernünftiges Mädel. Du hast also ein Pferd gekauft. Ich kann sehr gut verstehen, wie du dazu gekommen bist. Aber hast du auch daran gedacht, daß nächste Woche wieder ein Mann mit einem alten, blinden Pferd kommen wird? Und dann nächste Woche wieder. Du kannst doch nicht alle diese armen alten Pferde kaufen.“

„Ach, Paps, so darfst du gar nicht sprechen. Natürlich weiß ich das genau. Und das ist eben das entsetzliche. Wenn, ich Klinteborg besäße, so könnte ich sie alle kaufen und dort weiden lassen und es sollte ihnen himmlisch gehen bis an ihr Lebensende, aber das eine Pferd… es sah mich todtraurig an aus seinem einen Auge und da flüsterte ich ihm zu, ja wirklich, ich versprach es ihm, daß es bei mir bleiben sollte und nichts mehr tun als Gras und Hafer essen, denn im Winter, wenn es nicht mehr draußen sein kann, dann muß es doch wohl Hafer bekommen?“

„Wo soll es denn im Winter sein?“

„Im Stall natürlich.“

„Hast du einen Stall?“
Bibi sah ihren Paps mit nassen Augen an: „einen Stall? Ja richtig, einen Stall, den hab ich ganz vergessen.“

„Du kaufst ein Pferd und weißt gar nicht, was du mit ihm im Winter machen wirst?“ Bibi wirft sich auf ihren Paps: „Nun darfst du aber nicht mehr schimpfen, nein, nein, nein, du darfst nicht mehr. Hilf mir doch lieber mit diesem Stall…“
Sie zog zwei Zehnkronenscheine aus der Tasche: „Das ist nun einmal für die Wiese. Es ist schon dort und weidet auf dem Rasen, du solltest sehen, wie glücklich es ist, aber es ist ja nur so ein winziges Stückchen Rasen, den hat es sicher bald abgegrast… Weißt du, Paps, ich hab eine Idee: sprich doch mal mit dem Packmeister, vielleicht läßt er es über Nacht in einem leeren Viehwagen stehen. Ich komme sicher schon in aller Herrgottsfrüh, um es herauszulassen, und wenn wir ihm eine dicke Schicht Stroh hinein legen, kann es nicht frieren.“

„Nimm jetzt einmal deine zwanzig Kronen, ich denke nicht daran, meine Wiese an dich zu verpachten oder zu vermieten… Aber ich lade dein Pferd ein, auf ihr zu grasen, so lange es Lust hat und etwas findet. Paßt dir das?“

„Du bist der herrlichste Paps, den es jemals gegeben hat, und nun weine ich noch ein bißchen, denn sonst zerplatze ich vor Freude. Aber weißt du was? Es ist sicher auch jetzt schon nachts sehr feucht auf der Wiese und was machen wir, wenn Hochwasser kommt? Wir könnten wirklich einen kleinen Stall im Garten bauen. Wir brauchen ja den Rasen sonst zu nichts. Du bist nie dort und es kostet nur einen Haufen Geld, wenn Gärtner Jansen mit der Grasmaschine kommt, Ich glaube, ich weiß, wo man Bretter für so gut wie nichts kriegt, der Hof bei der Schanzmühle, der vorigen Frühling brannte, wird jetzt abgerissen. Und Frachtmann Petersen bringt sie mir sicher umsonst, ich muß ihm nur alle Winterbirnen von dem großen Baum versprechen, er ist ganz wild auf Winterbirnen und seine Frau auch, und Valborg und ich, wir können den Stall ganz gut selber bauen. Maurermeister Andreasen wird uns schon sagen wie. Valborg kann alles, wenn man es ihr nur einmal zeigt. Wollen wir nicht gleich in den Garten gehen und die Stelle suchen, wo unser Pferd seinen Stall haben soll? Komm, Paps! Das bißchen Dachpappe wird auch kein Vermögen kosten, das wünsch ich mir zum Geburtstag oder zu Weihnachten, ich kann ja auch vom Schatzgeld etwas nehmen…

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Dr. Thomas Horwath
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Publiziert am 01.04.2021
Name der Autorin: Karin Michaëlis (1872 – 1950)
Bibi – Leben eines kleinen Mädchens
Band 5: Bibi in Dänemark
Herausgeber und Vorwort: Thomas Horwath
Illustration & Cover: Judith Reßler
https://www.judithressler.at/
ISBN – 978-3-903037-45-8

Die Ausgabe dieses E-Books: Bibi – Leben eines kleinen Mädchens, Band 5: Bibi in Dänemark, bezieht sich auf die Originalausgabe des Rascher Verlages aus Zürich, aus dem Jahr 1935. Zur Dokumentation über die Abklärung der Rechte: Bitte diesen Link anklicken.