Bibi – Leben eines kleinen Mädchens – Band 6: Bibi lernt Landwirtschaft

Band 6: Bibi lernt Landwirtschaft
Bibi ist nun zu einer jungen Frau herangewachsen, die vor der Frage steht, was für einen Beruf sie wählen soll. Durch die Vermittlung ihrer Großmutter ist es ihr möglich, auf einem Hof die Landwirtschaft zu erlernen. So kann Bibi weiterhin ihrer Liebe zu den Tieren treu bleiben. Und Bibi bleibt neugierig. Sie erkundet ihre neue Umgebung und die Menschen, die dort wohnen. Sie zeigt vor allem Interesse an einer Witwe und ihren Söhnen. Mit den Verschworenen bleibt sie natürlich nach wie vor im Kontakt und die Federn glühen bei dem regen Austausch an Briefen, denn es geht unter den jungen Damen vor allem um ein Thema. Und dann ist da noch diese Seuche, die alle Tiere des Hofes bedroht und die Nerven der Menschen strapaziert. Wird das alles gut ausgehen?

Für Eltern:
In Skandinavien wird die Figur der Bibi als eine der Inspirationen zu Astrid Lindgrens (1907 – 2002) Pipi Langstrumpf gesehen. Während Pippi eine Welt erfindet, in der alle anderen sich mit ihr zurechtfinden müssen, erleben wir Bibis Abenteuer in der realen Welt, und wie sie damit zurechtkommt, ohne dabei ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Trotzdem sind beide unglaublich mutige Mädchen, die die Fähigkeit haben, alles in ihrer Umgebung auf den Kopf zu stellen. Ein Wunsch von vielen, der derzeit wohl nur im Roman zu verwirklichen ist.

Name der Autorin: Karin Michaëlis (1872 – 1950)
Bibi – Leben eines kleinen Mädchens
Band 6: Bibi lernt Landwirtschaft
Herausgeber und Vorwort: Thomas Horwath
Illustration & Cover: Judith Reßler
http://www.judithressler.at/
ISBN – 978-3-903037-46-5

Leseprobe:

Bibi – Leben eines kleinen Mädchens

Band 6: Bibi lernt Landwirtschaft

von Karin Michaëlis
Illustration: Judith Reßler

Liebe Bibifreundinnen,
liebe Bibifreunde und solche, die es noch werden,

es macht mir großen Spaß, in alten Buchhandlungen nach Büchern mit verborgenen Schätzen zu suchen. Meistens sind diese Bücher in einer so alten Schrift geschrieben, dass diese heute nur noch schwer zu entziffern ist. Mit diesem Buch ist es mir gelungen, einen Schatz zu finden, der schon fast 100 Jahre lang darauf gewartet hat, wiederentdeckt zu werden. Dieser Schatz ist nicht aus Gold und Silber, er besteht aus den Geschichten und Ideen, die in diesem Buch – Bibi lernt Landwirtschaft – von Karin Michaëlis aufgeschrieben worden sind. Und es ist jetzt schon der sechste Band. Ich denke, dass Karin viel von dem, was sie als Kind erlebt hat oder gerne erlebt hätte, Bibi in ihren Büchern erleben lässt. Beim ersten Lesen hatte ich eine so große Freude, dass es mir ein dringendes Bedürfnis geworden ist, daraus ein modernes Buch – ein E-Book – zu machen, um diesen Schatz nun mit allen Lesern und Leserinnen teilen zu dürfen.

Wir wissen alle, dass die Rechtschreibung sich hin und wieder ändert und das, was gestern richtig war, ist dann morgen ein Fehler und umgekehrt. Ich habe mich bemüht, die Schreibweise aus der Entstehungszeit des Buches so genau wie möglich zu übernehmen. Vor ca. 100 Jahren hat man ein paar Worte anders geschrieben, die ß/s/ss – Schreibung war beispielsweise ganz anders und im Buch findet ihr noch einige andere Beispiele mehr. Ich will jetzt nicht sagen, dass es falsch ist, denn damals war es ja richtig, ich möchte gerne sagen: Es ist zu einer Buchstaben-Zeitreisemaschine geworden. Dieser und der nächste und letzte Bibi-Band wurden ursprünglich bei dem Rascher Verlag in Zürich verlegt. Beim Lesen merkt man, dass es sich da um eine andere Art der deutschen Sprache handelt. Wir verstehen das natürlich, auch wenn es sich manchmal etwas hoppelig liest. So ist das, bei einer Buchstaben-Zeitreisemaschine, man weiß nie so ganz genau, wo sie rauskommt.

Bibi schreibt in den Büchern viele Briefe an ihren Paps. Nachdem es Bibi mit der Orthografie (Rechtschreibung) nicht ganz so genau nimmt, weil sie viel besser Zeichnen als Rechtschreiben kann, denke ich, es ist in Bibis Sinn, wenn ich sage: „Wer Rechtsschreibveler findet der darff sie auch behalden.” Karin meinte dazu, dass es oft so ist, dass jemand, der zu einer Sache hervorragend taugt, in einer anderen gar nicht gut ist. Das können erwachsene Leute nicht verstehen, aber Kinder können es, denn Kinder verstehen alles viel besser als Erwachsene. (Karin Michaëlis – Bibi: Kapitel 3 – Bibi geht auf Fahrt).

Ich weiß, was ich selber gut kann; ich kann gut Schätze in alten Büchern finden, denn jeder hat etwas, was er oder sie besonders gut kann. Und wenn wer was nicht kann, der kann das ja immer noch lernen.

Im Originalbuch gibt es viele Zeichnungen von Hedwig Collin, die fehlen hier. Wer mag, der kann mir eine Zeichnung zu dem schicken, was er oder sie in dem Buch gelesen hat und wenn einige Bilder zusammenkommen, dann machen wir daraus eine kleine Bibigalerie.
https://www.dieerzaehlwerkstatt.at/

Bibi und ihre Freundinnen sind älter geworden. In diesem Buch probieren sie einige neue Dinge aus. Unter anderem probieren sie auch aus, wie das ist, eine Zigarette zu rauchen. Heute, 100 Jahre später, weiß man, wie schädlich das für den Körper ist und wie viele Menschen im Jahr daran sterben. Damals, vor 100 Jahren, war es ein Zeichen für die Emanzipation und Selbstständigkeit von Frauen. Wenn man nun aber wegen dem Rauchen stirbt, dann hat man auch nicht mehr viel von Emanzipation und Selbstständigkeit, weder als Frau noch als Mann.

Früher wurden auch einige Wörter gesagt und geschrieben, die man heute nicht mehr sagt, weil sich Menschen dadurch schlecht behandelt fühlen oder weil sie beleidigend sind, und weil es gemein ist, andere Menschen so zu nennen. Weil wir inzwischen zum Glück alle gelernt haben, dass man einige Wörter nicht mehr sagt, hab’ ich diese Worte einfach ausgetauscht, in welche die nicht wehtun.

Nachdem ich das erste und das zweite und das dritte und das vierte und das fünfte und das sechste Bibi-Buch gelesen hab’, habe ich die kleine Schwester vermisst, von der ich immer wusste, dass sie einmal da sein würde, die ich im echten Leben aber nicht habe.

Ich wünsch Euch ebenso viel Freude beim Lesen der Bibi-Bücher, wie ich es hatte.

Liebe Grüße
Thomas Horwath

PS: Ich hab’ natürlich noch eine Lieblingsstelle in diesem Buch – die müsst ihr auf jeden Fall gelesen haben, auch wenn ihr das Buch nicht kauft:

Dann fing mich endlich die Polizei. Ich wurde mit Gewalt in die Anstalt für entartete Kinder gebracht. Aber hört nun zu: noch am selben Abend saß ich vor einem älteren Mann, der zu mir sprach, so wie noch niemand zu mir gesprochen hatte. Es bedurfte gar nicht vieler Worte, so war mein Trotz geschwunden. Und als der Mann mich bat: „Versprichst du, mir zuliebe ein neues Leben zu beginnen…” da hatte ich das neue Leben eigentlich schon begonnen. Denn er hatte mich verstanden und mir vergeben, ohne mich zu verurteilen.
(Karin Michaëlis – Bibi lernt Landwirtschaft: Kapitel 5 – Eine unvergeßliche Stunde)

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel – Paps ist wunderbar!
2. Kapitel – Die Katastrophe
3. Kapitel – Ein wichtiger Beschluß
4. Kapitel – Weitere Verhandlungen
5. Kapitel – Eine unvergeßliche Stunde
6. Kapitel – Bibis Briefwechsel I.
7. Kapitel – Velsigne
8. Kapitel – Bibis Briefwechsel II.

1. Kapitel – Paps ist wunderbar!

Bibi war grenzenlos verzweifelt gewesen, als Paps ihr die Geschichte mit der abscheulichen russischen Lehrerin anvertraut hatte. Nun aber hatte sie mit Valborg einen so herrlichen Plan ausgeheckt, daß sie plötzlich wieder himmelstürmend glücklich war. Von der Mutter der Gracchen steht in allen Weltgeschichten, weil sie die Hand für ihre Söhne ins Feuer gesteckt hat. Als ob da auch schon was dabei wäre! Bibi wollte ihrem Paps ein Opfer bringen, das hunderttausendmal größer war. Und wenn sie auch daran zugrunde ginge. Paps mußte wieder froh werden. Ole war Manns genug, um den alten Haubenstock bis nach Dänemark zu schleifen, ob sie nun wollte oder nicht. Sie mußte einfach.

Es waren keine hübschen Ausdrücke, mit denen Bibi an die Person dachte. Aber das war schließlich Privatangelegenheit. Das konnte niemand ihr verbieten. Nur ein Glück, daß sie sich mit Valborg aussprechen konnte. Valborg war ungeheuer gescheit und überhaupt großartig, so oft etwas schief ging. Bibi war so verwandelt, als sie wieder nach Hause kam, daß sogar ihr Paps Verdacht schöpfte: „Erzähl mir lieber gleich, was los ist. Ich seh’ es dir ja an der Nasenspitze an, daß du schon wieder einmal etwas vorhast.”

Bibi schüttelte den Kopf: „Ich habe gar nichts vor. Wirklich. Ich freue mich nur so, daß ich wieder zu Hause bin, und dann die neue Schule morgen und dann…” Sie schwatzte darauf los und erzählte noch alles mögliche, wofür sie in ihren Briefen keinen Platz mehr gehabt hatte.

„Hör mal, Bibi, du hast doch unterwegs nicht vergessen, auch an deine Großmutter zu schreiben?” „Nein, selbstverständlich nicht, das heißt, ich glaube…” Sie stockte, dunkelrot und verlegen: „Ich war ganz bestimmt fest dazu entschlossen. Und ich dachte schon, ich hätte es getan…” „Das ist ja furchtbar…” „Aber weißt du was, ich schreibe ihr morgen sofort acht Seiten, unbedingt, ich schwör es dir.”

„Nein, Bibi, das ist nicht schön von dir. Was nützt es, daß du fest dazu entschlossen warst. Erinnere dich an das alte Wort: der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert… Großmutter hat mir inzwischen in deinen Angelegenheiten geschrieben. Sie hat deinetwegen alles verkauft, was sie nur zu Geld machen konnte. Und du vergißt, ihr auch nur ein paar Worte zu schreiben. Sie hat ihren Schmuck verkauft, ihre Spitzen, ihre wertvollsten Bilder und auch noch einen großen Teil der Einrichtung. Ja, sie hat sogar ein paar Grundstücke verkauft…”

Bibi, die den Kopf schon hatte hängen lassen, fuhr plötzlich in die Höhe: „Ach was, das weiß ich, das hat sie mir schon längst erzählt. Das mußte sie tun, weil Großvater in seinem Testament versprochen hatte, für die Leute auf Klinteborg zu sorgen. Ich finde das riesig nett vom ihm. Du nicht auch?”

„Du weißt nur die Hälfte, Bibi. Deine Großmutter wollte, wenn irgend möglich, vermeiden, daß Klinteborg unter staatliche Verwaltung kommt. Sie hoffte immer noch, daß du das Gut einmal übernehmen könntest…”

„Aber Paps, das sag’ ich doch die ganze Zeit. Weißt du denn nicht, daß so ein Gut, wenn es erst einmal unter staatlicher Verwaltung ist, zwanzig oder hundert Jahre lang nicht mehr freigegeben wird, und bis dahin bin ich längst tot und gestorben. Daher kann ich sofort darauf pfeifen.”

„Möchtest du mich nicht auch einmal ausreden lassen? Deine Großmutter hat also alles verkauft, um die im Testament angegebenen Summen zu bezahlen. Damit das Gut jedoch erhalten bleibt, hat sie außerdem noch drei große Pachthöfe verkauft, und der Betrag wurde für dich angelegt, um dir ein anständiges Betriebskapital zu sichern, falls du doch einmal das Gut übernehmen solltest.”

„Großmutter ist ein Kerl. Und wenn mir auch gar nicht so besonders viel an Klinteborg liegt, so können Ole und ich es jedenfalls brauchen. Wir haben ganz was Besonderes vor, du weißt doch.”
„Ich weiß natürlich gar nichts. Du hast ja so viele Pläne, daß einer über den andern stolpert. Da ist es nicht immer leicht, dir zu folgen.”

„Nein, Paps, das ist nicht nett von dir. Du weißt doch ganz genau, daß Klinteborg ein Heim für alte Pferde werden soll, das Schloß aber brauchen wir für Waisenkinder, die wir adoptieren. Und wenn Platz genug bleibt, so könnten wir auch entlassene Sträflinge bei uns aufnehmen. Die meisten finden keine Bleibe mehr, weil kein Mensch mit ihnen zu tun haben will. Bei uns jedoch können sie die Pferde pflegen und gut aufpassen, daß sie nicht in den Regen hinauslaufen und nachts ordentlich zugedeckt bleiben und das alles. Es gibt ja auch manchesmal weibliche Sträflinge, die können uns bei den Kindern helfen. Valborg und Ole und ich, wir werden schon dafür Sorge tragen, daß alles wie am Schnürchen geht…”
Schon gut, Bibi, so denkst du dir das heute. Wir werden ja sehen. Und es werden dir noch viele Pläne durch deinen kleinen Kopf laufen, ehe du reif genug bist, um Klinteborg zu übernehmen. Jetzt versprich mir aber, daß du morgen wirklich einen schönen Brief an deine Großmutter schreibst.”

„Mein großes Ehrenwort. Bist du nun zufrieden?” Bibi gibt ihrem Vater einen Gutenachtkuß und flüstert ihm dabei rasch noch zu: „Du darfst nicht traurig sein, du verstehst schon, was im meine. Denn ich weiß etwas, was ich dir nicht verraten werde. Paß auf, eines schönen Tages wirst du noch so glücklich sein, daß du in die Luft gehst vor lauter Freude. Es hat keinen Sinn, daß du mich weiter fragst. Denn ich schweige bestimmt wie das Grab.”

Bibi ging aber nicht gleich zu Bett. Erst mußte noch der Brief an Ole abgegangen sein. Das war wichtig und das eilte.

Lieber Ole,
nun mußt Du aber wirklich tun, was ich sage, und zwar sofort. Du wirst sie schon finden, wenn Du Dir nur ein bißchen Mühe gibst. Sie ist ein gräßliches Frauenzimmer, und sie hat so lange um meinen Paps herum scherwenzelt, daß er jetzt stirbt, wenn er sie nicht kriegt: Du verstehst. Kann schon sein, daß sie erst sagt, sie will ihn gar nicht, aber das ist dann nur Getue, darum brauchst Du Dich gar nicht kümmern. Sie ist natürlich bis über die Ohren verschossen in ihn. Herrgott, wie ich sie hasse! Ich könnte sie in der Luft zerreißen. Und wenn es nicht wegen Paps wäre, so hätte ich ihr schon geschrieben, daß sie sich nicht unterstehen soll, den Fuß in unser Haus zu setzen. Ich habe mir auch geschworen, daß sie mich nie im Leben dazu bringen wird, Mama zu ihr zu sagen. Das mußt Du aber nicht gleich weitererzählen. Es heißt eben gute Miene zum bösen Spiel machen. Du hättest Paps nur sehen sollen! Aber ich werde schon höflich mit ihr sein und alles in mich hineinfressen. Sie soll sich nur nicht unterstehen, etwas von Mamas Sachen anzurühren, sonst kratze ich ihr die Augen aus. Und wenn sie Paps küßt, was sie wohl auch tun wird, so laufe ich aus dem Zimmer. Du mußt sie aber trotzdem nach Dänemark schleifen. Sie hat wohl blaue Brillen und ist mager wie ein Besenstiel. Ich sehe sie ordentlich vor mir, wie die Kleider an ihr schlottern. Ich wette, sie sieht aus wie die Fagerlund. Und wenn Valborg auch tausendmal sagt, daß es Quatsch ist, und daß nur Jensine mich mit solchen Ammenmärchen füttert, so bin ich doch felsenfest davon überzeugt, daß sie meinen Paps mit einem Liebeskrank verzaubert hat. Wie käme er denn sonst auf den Einfall, sich in so eine zu verlieben? Wo er doch die vielen Bilder von Mama hat. Eine spitze Nase hat sie natürlich auch. Die Leute werden lachen, wenn er mit ihr über die Straße geht. Jetzt schleiche ich mich noch rasch in Paps Zimmer, dort liegt ein Haufen Briefe in der Schreibtischlade, ich schreibe Dir dann die Adresse mit großen Buchstaben auf. Sie wohnt zwar nicht mehr dort. Aber irgend jemand wird schon wissen, wohin sie übersiedelt ist. Wenn es auch ein bißchen weit ist, Du mußt zu ihr fahren. Ich will nicht, daß mein Paps aus Kummer stirbt; denn sonst sterbe ich mit. Wenn sie sich aber nicht anständig benimmt und furchtbar lieb mit ihm ist, so schütte ich ihr Arsenik ins Essen, dann stirbt sie und kein Aas weiß, warum. Sowie Du sie aufgestöbert hast, mußt Du mir sofort telegraphieren. Ich muß Paps vorbereiten, damit er nicht an der Überraschung stirbt. Er ist nicht sehr bei Kräften, ich muß sehr auf ihn aufpassen. Valborg hat sich auf ein Haar in einen reichen Amerikaner mit Seidenhemden verliebt, sie leugnet zwar, aber Du kannst es mir glauben. Morgen übersiedelt unsere Schule in das neue Haus gegenüber der Bank, weil das alte abgebrannt ist. Das wird lustig. Du könntest wirklich jede Woche schreiben. Es ist so fein, wenn man Briefe mit ausländischen Marken bekommt. Jensine soll einen Nachtwächter heiraten, der jede Nacht den Dieben und Mördern auflauert. Sie werden sicher niemals miteinander streiten; denn er schläft bei Tag und sie bei Nacht. Ich war mit den Verschworenen auf einer tollen Radtour, denn wir bekamen ja für nichts und wieder nichts Feuersbrunstferien, weil die Schule übersiedeln mußte. Jetzt mach aber rasch, und wenn Du nicht genug Geld für die Reise hast, so leih es Dir aus, ich werde es schon zusammenkratzen. Augenblicklich hab’ ich gar keines, ich mußte sogar in Hobro für zehn Kronen mein Rad versetzen, die wird mein Paps mir aber wieder geben. Ich finde, Du solltest Tierarzt werden, das wird sehr wichtig sein für unsere alten Pferde auf Klinteborg.
Bibi.

Schlaftrunken öffnet Bibi die Schreibtischlade, um nach den verhaßten Briefen zu greifen. Sie zog einen Briefumschlag hervor, um die Adresse hinten abzuschreiben. Da fuhr sie zusammen, als hätte ein eisiger Schneeball sie getroffen: Sie wußte ja gar nicht, ob Ole schon in Rußland oder noch in Prag war. Und wenn er abgereist war, wie sollte sie ihn dann in Rußland suchen?

Bibi war so enttäuscht und übermüdet, daß sie jede Vorsicht vergaß. Sie ließ den Kopf auf den Schreibtisch fallen und jammerte, daß Paps sie durch zwei Zimmer hindurch hören konnte. Er kam aus seinem Schlafzimmer, und sie merkte es erst, als er sich über sie beugte: „Was ist denn? Warum weint mein kleines Mädchen?”

Bibi fuhr auf. Sie wollte Oles Brief an sich reißen, aber Paps hielt ihn bereits in der Hand: „Es ist wohl am besten, wenn ich das lese. So finde ich vielleicht die Erklärung…”

Bibi hatte nicht mehr Kraft genug, sich zu wehren. Sie stöhnte nur: „Und es war doch eine so gute Idee. Und nun nützt es nichts mehr …”

Paps stand vor ihr in seinem Schlafrock und las den Brief sehr aufmerksam. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn: „Das also… wolltest du für mich tun.. dieses Opfer wolltest du bringen…”

Bibi stieß zwischen Schluchzen hervor: „Ich werde aber nie – nie – nie – Mama zu ihr sagen… lieber sterben…”

„Du wirst zu niemandem Mama sagen müssen. Glaubst du wirklich, Bibi, daß ich imstande wäre, meinem kleinen Mädchen so etwas anzutun? Nein, wir beide gehören zusammen. Niemand, hörst du, niemand wird zwischen uns kommen… Das ganze war ja nur ein Traum… Man erwacht und weiß, es war ein Traum… Ich bin erwacht… Steh auf, Bibi, wir wollen mal versuchen, ob ich dich noch in dein Bettfragen kann, oder ob du schon zu schwer dafür geworden bist.”
Bibi machte sich leicht wie eine Feder, sie fand es wenigstens selbst, und ihr Paps tat, als ob er es ebenfalls fände. Als der Mond durch das Fenster guckte, sah er ein großes Mädchen im Schlafe lächeln.

2. Kapitel – Die Katastrophe

Die neue Schule war ein bißchen eine Enttäuschung. Da hatte man sich eingebildet, daß alles ganz anders werden würde als früher, ungefähr so, wie wenn man in ein fremdes Land mit neuen Häusern und neuen Menschen gereist ist. Und nun war eigentlich alles beim alten geblieben. Sogar die Fenster waren auch hier auf Veranlassung der Fagerlund aus Milchglas, obwohl die Klasse im ersten Stock lag. Was das schon geschadet hätte, wenn man über die Felder weg bis zu den drei Dörfern mit ihren weißen Kirchtürmen gesehen hätte!

Der Schulhof war das beste. Der lag gleich neben dem Markt, so daß man sich Samstag, wenn die Bauern ihre Buden aufgestellt hatten, auf einen kleinen Bummel hinausschleichen konnte.

Bibi und die Verschworenen, außer Anne Charlotte, die noch mit ihrem gebrochenen Bein zu Bett lag, protzten aus Leibeskräften mit den fürchterlichen Lebensgefahren, die sie überstanden hatten. Mochten auch andere in der Klasse während der Feuersbrunstferien was erlebt haben, mit den Abenteuern der Verschworenen konnten sie sich doch nicht messen.

Die ersten Stunden vergingen ganz gewöhnlich, in der Pause jedoch ereignete sich etwas , was die ganze Stadt auf den Kopf stellte und Bibis Leben nicht wenig beeinflussen sollte. Es begann damit, daß Lehrer Blum, der von elf bis zwölf Mathematik hatte, zum Tor hereinstürzte, als würde er mindestens von einem brüllenden Löwen verfolgt. Er raste durch den Hof auf Fräulein Fagerlund zu, die eben mit Fräulein Väde und dem Geographiesörensen zusammenstand. Daß er was Ungewöhnliches zu sagen hatte, merkte man gleich; denn Fräulein Fagerlund schlug die Hände zusammen und sah zum Himmel auf, während das nette Fräulein Väde mit den vielen Löckchen erst den Mund aufriß und dann auf die Mauer zulief, um das Gesicht zwischen den Händen zu verstecken, als schämte sie sich. Man war natürlich rasend neugierig, aber erstens schickte es sich nicht, zu lauschen, und zweitens hätte es gar nichts genützt und nur eine Rüge von Fräulein Fagerlund eingetragen. Ein Glück, daß man die nächste Stunde bei Fräulein Väde hatte, die war bedeutend zugänglicher.
Fräulein Väde erschien mit rotverschwollenen Augen. Sie versuchte erst zu tun, als wäre nichts passiert, man wurde ordentlich verlegen, wenn man ihr ins Gesicht sah. Die Tränen tröpfelten ihr über die Wangen, bis sie plötzlich den Kopf auf das Pult legte und ganz jämmerlich zu weinen begann.

Bibi flüsterte Valborg zu: „Ich schwöre dir, ihr Bräutigam hat sie sitzen lassen.”

Valborg nickte zustimmend. Fräulein Väde war mit Kommunenlehrer Abel verlobt. Er hatte einen Schnurrbart und Hornbrille, und sie sollten zu Weihnachten heiraten. Die ganze Klasse hatte die Pläne des kleinen Hauses bewundert, die Abel selbst gezeichnet hatte und das er bauen wollte, so wie Geld genug dafür vorhanden war. Ein süßes kleines Haus mit einem winzigen Gärtchen und einem Taubenschlag für Abels Brieftauben, die um die Wette flogen und in den Zeitungen silberne Prämien bekamen. Die Klasse hatte sich auch schon über das Hochzeitsgeschenk den Kopf zerbrochen. Einige waren für ein Kissen mit Kreuzstichmuster, an dem alle sticken sollten, andere für das schöne Schreibzeug aus Alabaster, das im Schaufenster der Buchhandlung lag. Valborg hatte allerdings vorgeschlagen, daß Fräulein Väde einen Wunschzettel schreiben sollte, damit sie auch wirklich bekommen könnte, was sie brauchte. Sie hatte nämlich gehört, daß das in der Schweiz so Sitte war. Dort war es gar keine Schande, einen Milcheimer, eine Fleischmaschine oder eine gewöhnliche Rumpel als Hochzeitsgeschenk zu geben.

Bibi trippelte auf das Katheder zu. Sie rieb Fräulein Väde den Rücken, als ob sie sie gegen einen Hexenschuß ein wenig massieren wollte. Dann flüsterte sie ihr ins Ohr: „Sie dürfen sich das nicht so zu Herzen nehmen. Er kommt sicher zurück. Ich wette, daß er gar nicht ohne Sie leben kann.”

Fräulein Väde sah mit nassen Augen zu ihr auf: „Was redest du da?” Dann aber vertraute sie ihren Kummer der ganzen Klasse an, als wäre jede einzelne ihre beste Freundin. Sie war gar nicht sitzen gelassen worden, aber es war trotzdem ganz arg: „Denn nun können wir Gott weiß wie lange auf unsere Hochzeit warten, wenn es überhaupt jemals dazu kommt. Und zu unserem Häuschen kommen wir überhaupt niemals…”

Sie weinte zum Herzzerbrechen, die ganze Klasse umringte sie, um sie zu trösten. Jede hätte am liebsten auch darauflos geheult, obwohl sie nicht recht begreifen konnten, was denn nur eigentlich geschehen war. Fräulein Väde rang die Hände und zerrte an ihren eigenen Fingern, daß es in den Knochen knackte und einem angst und bange dabei wurde.
Fräulein Väde stöhnte: „Die Bank… diese Bank…Unser Geld ist fort… jeder Öre… Da haben wir gespart und gespart und uns kein Vergnügen gegönnt… Dazu auch noch das Erbe von meiner Tante… Kein Öre mehr da… Diese Bank, diese Bank…”
Nun erst verstand Bibi. Die Bank war von Räubern bestohlen worden. Sie sah diese Räuber sofort vor sich, wie sie mit Masken vor dem Gesicht die ganze Nacht lang einen Tunnel gruben, der bis unter die Bank ging. Einer von ihnen legte Dynamit hinein, und ein anderer zündete die Lunte an. So sprengten sie die schweren Gewölbe, in denen die Goldbarren aufgestapelt lagen. Dann schleppten sie die Beute mit sich fort, um sie in einer fernen Höhle unter sich zu verteilen. Vielleicht waren sie auch schon unterwegs nach England oder über die deutsche Grenze geschlichen. Nur merkwürdig, daß niemand was gemerkt hatte; denn so eine Explosion macht doch sonst einen rasenden Krach.

Sie mußte Fräulein Väde fragen, ob die Polizei schon in Besitz der Fingerabdrücke sei; denn dann war es keine Sache, die Räuber zu fangen. Fräulein Väde seufzte: „Aber Bibi, das sind doch keine Räuber. Wollte Gott, es wären welche.”
„Ja, was denn sonst?”

Lise Juncker gab Bibi durch Zeichen zu verstehen, daß sie Bescheid wußte, aber Bibi hatte wenig Lust, sich gerade von Lise etwas erklären zu lassen. Sie kam immer so wichtig mit ihrer Weisheit, weil ihr Vater Staatsanwalt war. Und nun sagte glücklicherweise Fräulein Väde selbst: „Die Bank ist geschlossen… die Bank hat ihre Zahlungen eingestellt…”
Bibi blinzelte Valborg zu. Fräulein Väde war wohl ein bißchen plemplem. Was ging es sie an, ob so eine dumme Bank geschlossen war. So was war doch schon vorgekommen. Viele Banken hatten schon einmal ihre Zahlungen eingestellt. Bibi fiel ein, daß sie das alles in der Zeitung immer übersprungen hatte. Aber Valborg machte ein riesig ernstes Gesicht. Die ganze Klasse schluchzte, und da schluchzte Bibi denn auch. Lise Juncker hielt einen ganzen Vortrag, wie schrecklich es sei, wenn eine Bank ihre Zahlungen einstellen müsse. Es gab nämlich etwas, das hieß „run” auf die Bank, das hieß, daß alle Leute auf einmal ihr Geld haben wollten, und wenn keines mehr da war, mußte die Bank die Zahlungen eben einstellen. So verloren sie alle ihr Geld, und sooft eine Bank ihre Zahlungen einstellte, gab es eine Masse Leute, die pleite gingen.
Bibi zuckte die Achseln: „Du brauchst uns nicht den Teufel an die Wand malen vor lauter Besserwissen!” Lise ließ sich jedoch nicht beirren; denn alle andern schauten erwartungsvoll auf sie: „Und wenn das Aktienkapital flöten ging, so kann es passieren, daß die Leute auch mit ihren Sparkassebüchern einheizen können.”

„Welche Bank ist es denn?” fragte Tytte Wilhjelm. Bibi zuckte zusammen: wenn es die Bank hier wäre. Dann müßte die Schule nochmals übersiedeln. Fräulein Väde erklärte, es sei die Bank an der Ecke des Kirchplatzes, worauf Lise ausrief: „Herr des Himmels, das ist ja die größte Bank im ganzen Land!”

Fräulein Väde unterbrach Lise, die sonst überhaupt kein Ende mehr gefunden hätte: „Jetzt genug damit. Es hilft ja doch nichts. Hole die Hefte, Valborg, wir wollen mit dem Unterricht beginnen.”

Dazu kam es jedoch nicht sofort; denn die ganze Klasse mußte Fräulein Väde erst der Reihe nach einen Kuß geben, und Bibi wollte Valborg schon den Vorschlag machen, ob man Fräulein Väde nicht auch als Verschworene aufnehmen könnte, sie würde ja ohnehin noch lange, lange nicht zum heiraten kommen. Das heißt, Fräulein Fagerlund würde doch nie im Leben gestatten, daß eine erwachsene Lehrerin außerhalb der Schulzeit mit den Kindern wie eine Kameradin befreundet war. Bibi ließ deshalb den Plan gleich wieder fallen, obgleich es ewig schade war. Fräulein Väde hätte sich sicher sehr getröstet gefühlt, sie hätte dann nicht gar so sehr über das schäbige Geld getrauert.

Die nächste Pause, die nur sehr kurz war, stand vollkommen im Zeichen des Bankkraches. Sogar die ganz kleinen schwatzten darüber. Bibi begriff nach und nach, daß es auch sie etwas anging. Dabei hatte sie die ganze Zeit das merkwürdig süße Gefühl in der Brust, als brauchte sie nur die Arme zu heben, um über die Dächer schweben zu können. So ging es ihr immer, wenn etwas Besonderes passierte, mochte es nun was Gutes oder was Böses sein. Von allen Seiten regnete es Fragen und Erklärungen. Bibi versuchte, überall auf einmal zuzuhören. Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie so was Interessantes in der Zeitung immer übersprungen hatte. Da kam sie zufällig an zwei Lehrern vorbei, die in ihrem Eifer mit den Armen fuchtelten. Sie hörte, wie der eine sagte: „Das ist eine Katastrophe für das ganze Land.”

Eine Katastrophe! Sie liebte dieses Wort. Katastrophe stand in den Zeitungen, wenn ein Schiff mit Mann und Maus untergegangen war. Katastrophe hieß es, wenn zwei Züge ineinander hinein rasten, so daß alle Passagiere getötet oder verstümmelt wurden. Von Katastrophe sprach man, wenn ein Berg über einer Stadt einstürzte und alles unter sich begrub.
Eine Katastrophe für das ganze Land!!!

In der nächsten und letzten Stunde begann der Geographiesörensen von selbst mitten in den chinesischen Provinzen von der Bank zu sprechen: „Es kann Euch ja leider nicht verborgen bleiben, Kinder. Der Zusammenbruch der Bank hat für uns alle unübersehbare Folgen.” Und nun hielt er einen kolossal interessanten Vortrag über Geld, angefangen von der Urzeit und den „wilden Völkern” der Südsee, die als Geld Kieselsteine benützten. Natürlich hatten sie alle Taschen voll Kieselsteine und ungeheure Haufen vor ihren Hütten. Werden größten Haufen hatte, war der reichste. Und so erzählte er immer weiter bis zum Staatsbankrott von 1814, nach dem das Land eine Zeitlang in Armut versank. Bibi wußte schon von diesem Bankrott, ihr Großvater hatte ihr davon erzählt. Damals hatte man auf dem Schloßberg von Ribe, gerade dort, wo früher einmal der Galgen gestanden hatte, ganze Wagenladungen von Wertpapieren verbrannt. Denn die waren nun plötzlich überhaupt nichts mehr wert.

Ulla fragte: „Was ist schlimmer: Krieg oder Staatsbankrott?” Herr Sörensen machte ein wütendes Gesicht: „Denk erst mal nach, ehe du so alberne Fragen stellst. Geld ist, und wenn man es auch noch so notwendig braucht, immerhin was anderes als Blut. Im Krieg handelt es sich um Menschenleben. Krieg ist Massenmord!”

Bibi hätte am liebsten bravo gerufen. Aber sie kann es doch nicht. Herr Sörensen war zu aufgeregt, und die Stimmung der Klasse zu düster.

 

Die Stadt sah so komisch aus, als man dann aus der Schule kam. Niemand dachte daran, so wie sonst nach Hause zu gehen. Die Straßen waren voll Menschen, alle hatten so einen merkwürdigen Gang, als kämen sie eben von einem Begräbnis. Bibi mußte an der Bank vorbei, die heute ihre Zahlungen eingestellt hatte. Dort war es schwarz von Menschen. Vor dem Gebäude standen mindestens vier Schutzleute. Die mußten wohl aufpassen, daß man nicht die Tür sprengte. Vor dem Eingang stand die Frau von Kaufmann Lumholdt und weinte. Bibi erinnerte sich, daß ihr Mann im vorigen Winter Konkurs angesagt hatte, das war sehr schlimm, wenn auch noch nicht so schlimm, wie eine richtige Pleite. Er war auch nur in die nächste Straße gezogen, um dort von vorne zu beginnen. Nun aber war sicher alles verloren, sonst würde sie sich nicht vor alle Leute hinstellen und weinen.

Bibi stürzte in das Kontor. Die Beamten pflegten sie sonst freundlich zu grüßen oder ihr etwas zuzurufen. Heute sagten sie nicht einmal „muh”. Sie riß die Tür zu Paps auf, wollte schon rufen: „Hast du gehört”, schlug sich jedoch selbst mit der Hand auf den Mund. Denn sie brauchte nicht zu fragen. Er saß zusammengesunken in seinem Stuhl und sagte tonlos: „Ja, Bibi, es sieht düster aus für uns alle.”

Jensine rief zum Essen. Es gab Hühnersuppe und gekochtes Huhn mit Meerrettich. Bibi konnte es nicht leiden, aber es war die Leibspeise von Paps. Heute stocherte er nur schweigend in dem Fleisch herum. Es war wirklich keine gemütliche Mahlzeit. Auch Bibi konnte von dem grünen Kohl und den gerösteten Kartoffeln, die Jensine für sie aufgewärmt hatte, kaum etwas hinunterbringen. Sie kaute und kaute an ihren Kartoffeln, die ihr trotzdem im Halse stecken blieben. Paps trank nachher ganz gegen seine Gewohnheit zwei Tassen starken Kaffee. Das durfte er gar nicht wegen seines Herzens. Er war eben in der Redaktion des Amtsblattes gewesen, um die zuletzt eingetroffenen Telegramme zu lesen. Nun erklärte er Bibi den Umfang der Katastrophe, die das Land betroffen hatte: „Du mußt nämlich wissen, daß diese Bank so etwas wie Dänemarks Geldbörse war. Alle Bauern hatten dort ihr erspartes Geld angelegt, viele hatten dort Anleihen auf ihren Grundbesitz genommen. Wenn die Bank schließt, so bedeutet das für Tausende und Tausende den Untergang. Wir gehen schweren Zeiten entgegen, Bibi…”

„Bibi setzte sich auf seinen Schoß: „Ich mache mir doch nichts aus Geld!” Geld ist nicht Blut, hatte der Geographiesörensen gesagt, und das hatte in ihren Ohren so gut geklungen.

„Du hast leicht reden. Du hast noch nie erfahren, was es heißt, Not zu leiden. Wenn ich heute stürbe, und wenn du nicht mehr deine Großmutter hättest, so würdest du bald wissen, was Geld bedeutet.”

„Wenn du stirbst, so sterbe ich auch…”

„Red keinen Unsinn, Bibi. Du mußt dir überhaupt diese großartigen Phrasen endlich einmal abgewöhnen.”
„Wenn es aber wahr ist. Ich will wirklich nicht leben ohne dich. Ich will nicht. Wir beide gehören zusammen in Leben und Tod. Das weißt du doch, Paps.”

„Ja, ja, schon gut. Aber nur solange wir eben zusammenbleiben dürfen. Du mußt auch lernen, auf deinen eigenen Beinen zu stehen. Das mußten wir alle.”

Paps ging auf das kleine Eisenschränkchen zu, das unter dem schönen Bild von Mama im Brautkleid in die Wand eingemauert war. Er holte ein paar Papiere heraus und legte sie vor Bibi und sagte: „Schau mein Kind, das ist alles, was ich im Lauf der Jahre für deine Ausbildung zusammensparte. Es sind Aktien. Jetzt kann ich sie in den Papierkorb werfen.” Er seufzte tief: „Wir dürfen jedoch nicht nur an uns selbst denken. Es gibt viele, die noch schlimmer dran sind. Nimm deinen Mantel, wir wollen ein bißchen spazieren gehen. Das wird mir wohl tun.”

Unterwegs wurden sie ununterbrochen von den verschiedensten Leuten aufgehalten. Die meisten drücken Paps die Hand wie nach einem Begräbnis, wenn der Leichenzug sich auflöst. Nun kam auch Ella Svendsen ihnen entgegen. Ella ging nicht mehr in die Schule, weil sie das letzte Jahr vor ihrer Konfirmation in einem französischen Pensionat verbringen sollte, um dann vielleicht zu einer weltberühmten Pianistin ausgebildet zu werden. Sie sah so aus, daß Bibi ihren Paps plötzlich stehen ließ, um auf sie zuzulaufen. Ella jammerte: „Wenn ich nur tot wäre…” Und dann begann sie mitten auf der Straße zu weinen. Als Paps sie nun auch zu trösten versuchte, schluchzte sie: „Es ist gar nicht nur meinetwegen. Ich kann ja auch Kindermädchen werden oder was ähnliches… Aber Vater…Vater… ich habe solche Angst, daß er sich was antut… Er ist außer sich… Er sagt, er kann es nicht überleben.”

Paps gab Bibi einen kleinen Wink. Dann sagte er zu Ella: „Weißt du was, ich werde dich nach Hause begleiten und mit deinem Vater sprechen. Du wirst sehen, es wird noch alles in Ordnung kommen. …”

Bibi wäre am liebsten mitgegangen, aber sie hatte den Wink verstanden. So trottete sie denn allein weiter. Sie kam in die Nähe der Bank und wollte eben einen kleinen Schwatz mit dem Polizeimadsen beginnen, als die Kirchenglocken zu läuten begannen und ein Hochzeitszug an ihr vorbeifuhr. Wer kann schon der Gelegenheit, eine Braut zu sehen, widerstehen? Bibi schlüpfte durch ein Seitentor in die Kirche und setzte sich auf einen leeren Platz. Es waren nicht viel Leute gekommen. Und die wenigen sahen alle aus, als dächten sie nur an die Bank und überhaupt nicht an die Hochzeit. Sogar das Brautpaar machte diesen Eindruck. Der Pastor redete auch gar nicht wie sonst bei Hochzeiten von einer lichten Zukunft und dem lieben Gott und dem traulichen Heim, sondern, man sollte es nicht für möglich halten, auch er redete nur von der Katastrophe, „die unser geliebtes Land betroffen hat und nicht einmal das junge Brautpaar verschont, dem heute, am ersten Tage eines neuen Lebens alle Hoffnungen zerstört wurden.” Alle schnaubten und putzten sich die Nase, es war beinahe noch ärger als vormittags in der Schule. Bibi bekam eine richtige Wut auf den Pastor. Was hatte er auch über die dumme Bank zu quasseln. So was schickt sich nicht für einen Pastor. Er sollte lieber von den Schätzen reden, die kein Rost zerfressen kann, und sie über das schäbige Geld, das sie verloren hatten, trösten. Sie würden sich schon durchschlagen.

Nein, sie blieb nicht länger, sonst hätte sie auch zu heulen begonnen. Auf der Straße rannte sie in die Familie Thingberg hinein. Die kam eben, so wie alle Tage, im Gänsemarsch daherspaziert. Zuerst Herr Thingberg mit seinem langen Bart, dann seine Frau und dann die fünf Töchter mit Ponnyfransen und Rattenschwänzchen. Sie wollten wohl in ihren Schrebergarten, um dort Kaffee zu trinken. Bibi war öfters in dem winzigen Gärtchen gewesen, wo immerhin noch Platz genug für eine Schaufel, eine Wippe und ein Lusthäuschen war, ganz abgesehen von den Stöcken mit den vielen bunten Glaskugeln. Paps nannte Thingsbergs immer die glücklichste Familie der ganzen Stadt. Die Schwestern zankten sich nie und wurden auch nie ausgezankt. Sie halten bei allem mit, kochten, räumten auf, gruben den Garten um, mähten das Gras usw. Gott sei Dank, daß es noch Leute gab, die ihr Geld nicht in der Bank hatten! Als sie jedoch ihre Gesichter sah, fiel ihr auf, daß auch sie heute nicht imstande waren, glücklich dreinzuschauen.

Sie kniff die Augen zusammen, so daß sie gerade noch sehen konnte, wo sie ging. Nach Hause, nach Hause. Sie wollte nicht noch mehr verzweifelte Gesichter sehen, sie wollte mit niemand mehr sprechen. Nicht einmal mit Jensine, die sicher in der Küche hockte, um ihren Sparpfennigen nachzuweinen. Nun würde wohl auch aus ihrer Hochzeit lange nichts werden.
Bibi setzte sich zu ihren Aufgaben, aber es ging nicht recht, immer wieder schwammen die verweinten Gesichter von Ella Svendsen, Fräulein Väde und Frau Lumholdt zwischen den Zeilen.

Jensine stecke den Kopf zur Tür herein und winkte mit einem Telegramm: „Das kam eben für deinen Vater. Es eilt wohl. Wo soll ich ihn auftreiben? Du bist doch mit ihm fortgegangen. Wo steckt er jetzt?”

Bibi hatte keine Lust, von Ella zu erzählen. Sie sagte nur: „Paps kommt sicher bald.” Dann aber rutschte ihr, sie wußte selbst nicht wie, die Frage über die Lippen: „Jensine, hast du auch dein ganzes Geld verloren?”

Jensine warf den Kopf zurück und setzte sich auf Bibis Bett: „Nein, meine Liebe, so was passiert mir nicht. Es gibt immer noch ein paar Leute, die sich nicht dumm machen lassen. Meine selige Mutter hat mir gesagt: „Wenn du ein paar Groschen übrig hast, dann in den Strumpf damit. Und wenn der Strumpf auch noch so alt und schäbig ist, es kommen keine Motten in dein Geld. Nein, nein, solche moderne Mätzchen mach ich nicht mit. Ich schlafe gut und weich auf meinem Geldstrumpf. Wenn die andern auch so gescheit wären, so hätten wir Jetzt nicht das Mallör. Mörup, der Schafskopf, war auch solch ein Besserwisser. Er mußte seine Zinsen haben. Zinsen, Zinsen! Und was hat er jetzt? Einen Dreck hat er.”

Bibi konnte sich nicht allzulange über die kluge Jensine und ihren Strumpf freuen; denn kurz darauf kam ihr Paps nach Hause und öffnete das Telegramm. Bibi fragte nach Ellas Vater, bekam jedoch keine Antwort. Da guckte sie ihrem Paps über die Schulter und schlug die Hände zusammen: „Von Großmutter! Und nicht an mich! Was ist denn das? Was habt ihr denn für Geheimnisse?” „Wer sagt denn, daß das Geheimnisse sind? Du mußt nicht immer gleich so neugierig sein.” Paps drehte das Telegramm zwischen den Fingern hin und her und runzelte die Brauen: „Mir gefällt das gar nicht. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als daß ich zu der alten Dame fahre.”

„Zu der alten Dame!!! Sie ist doch deine leibliche Schwiegermutter! Was das für eine Ausdrucksweise ist!” Paps lächelte: „Reg dich nicht auf, Bibi. Ich reise mit dem nächsten Zug, und wir wollen das Beste hoffen und auf das Schlimmste gefaßt sein.”

„Warum denn immer gleich auf das Schlimmste?”

„Weißt du, Bibi, der heutige Tag war ja nicht eben aufmunternd …”
Paps war auch am nächsten Abend noch nicht zurück. Bibi hatte alle Züge, die für ihn in Betracht kamen, abgepaßt. Sie dachte nicht daran, zu Bett zugehen, und wenn sie auch die ganze Nacht aufbleiben sollte.
Paps stieg ganz ruhig aus seinem Abteil: „Du bist noch auf? Es ist fast zwölf, und du mußt morgen um acht in der Schule sein.”

„Was war denn los, Paps. Ein bißchen freundlicher könntest du mich begrüßen. Da warte ich die halbe Nacht auf dem Bahnsteig. Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?”

„Mein großes Mädel soll zuallererst in die Federn. Morgen ist auch ein Tag, und dann wirst du alles erfahren.”

„Morgen! Bis morgen dauert es noch eine Ewigkeit. Ich kann gewiß kein Auge schließen.”

„Dann warten wir eben bis übermorgen. Du bist jetzt vierzehn Jahre, Bibi, also beinahe erwachsen. Es ist Zeit, daß du vernünftig wirst. Deine Großmutter läßt dich tausendmal grüßen. Sie ist nicht krank, nur ein wenig müder als sonst. Übrigens hat sie selbst mich gebeten, heute nicht mehr mit dir zu sprechen. Genügt dir das?”
Am nächsten Morgen war Bibis Paps im ganzen Hause nicht zu finden. Es blieb ihr nichts übrig, als in die Schule zu gehen, ohne zu wissen, was in dem geheimnisvollen Telegramm gestanden hatte.

In der Schule gab es schon große Umwälzungen. Drei Kolleginnen mußten sofort aus der Klasse austreten. Die Eltern hatten nach dem großen Krach nichtmehr die Mittel, um noch ein paar Jahre für ihre Ausbildung zu opfern. Anette Malm, die so ungeheuer begabt war und Bakteriologin werden wollte, sollte nun plötzlich Kindergärtnerin werden. Möglich, daß sie später einmal auch Krankenpflegerin oder Masseuse werden durfte, ihr war es gleich, sie hatte zu allem nicht die geringste Lust.

Trine Sommerfeldt war empört, weil man bei ihr zu Hause einem Mädchen gekündigt hatte und sie von nun an die ganze Stubenmädchenarbeit machen sollte. Alles nur, weil man plötzlich sparen mußte. Es gab doch auch andere Gelegenheiten, warum sollte gerade sie, Trine, das Bad ausgießen.

Bibi fand das nicht schön von Trine. Das bißchen Stubenmädchenarbeit war doch gar nichts im Vergleich zu Bodil Langbergs Unglück. Bodils Vater hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und war ins Krankenhaus gebracht worden, wo er Morphiuminjektionen bekam. Bodils Mutter hockte zu Hause und redete von nichts anderem, als daß sie den Gashahn aufdrehen wollte. Denn wenn nicht noch ein Wunder geschah, so mußte die Villa mit der gesamten Einrichtung in nächster Zeit versteigert werden. Und Bodil hatte noch vier jüngere Geschwister.

Bibi schenkte ihr die goldene Füllfeder, die sie von Paps zu Weihnachten bekommen hatte, und Bodil freute sich auch sehr damit. Gleich darauf flüsterte sie Bibi jedoch ganz aufgeregt zu: „Denk dir, Mutter spricht von Wechseln, und daß irgend was in Vaters Büchern nicht stimmt. Du weißt schon, was das heißt. Und du darfst es keiner Menschenseele sagen … Wenn Vater wirklich…” Sie konnte nicht weiter. Mitten in der Stunde bekam sie einen richtigen Weinkrampf, so daß sogar Fräulein Fagerlund, obwohl sie sonst so streng war und einen anschrie, wenn man von Kopfschmerzen oder Nerven sprach, Mitleid empfand: „Geh lieber nach Hause, Bodil. Deine Mutter wird dich vielleicht brauchen. Es macht gar nichts, wenn du ein paar Tage die Schule versäumst, du wirst es schon einholen.”

Fräulein Fagerlund brachte Bodil selbst aus der Klasse und blieb sehr lange weg. Bibi war überzeugt, daß sie Bodil eingeladen hatte, von nun an als Freischülerin in die Schule zu gehen.

Plötzlich fiel ihr auf, daß Ulla fehlte. Herrgott, was mochte dort schon wieder los sein. Bibi klapperte mit den Zähnen. Sie fror bis ins Herz hinein, obwohl die Sonne ihr möglichstes tat, um durch die Milchglasscheiben zu dringen. Sie fand nun doch, trotz des Geographiesörensen, daß ein Bankkrach beinahe so schlimm war wie ein Krieg.
In der großen Pause erzählte man sich, daß der Direktor der Bank einen Haufen Schlafpulver genommen habe und jetzt in Lebensgefahr schwebe.

 

Bibis Vater nahm sie an der Hand und führte sie in das Zimmer, das sonst nicht bewohnt wurde und wo noch alle Sachen von Mama standen: „Ich kann nur sagen, Bibi, ich wollte, ich hätte diese Unterredung schon überstanden. Denn ich habe dir nichts Gutes zu erzählen. Deine Großmutter ließ sich von gedankenlosen Menschen beraten. Anstatt das Geld, das dein Betriebskapital werden sollte, der Obervormundschaft zu übergeben, was das sicherste gewesen wäre, ließ sie sich verleiten, Aktien zu kaufen. Aktien geben höhere Zinsen, sind aber niemals ganz sicher. Allerdings konnte niemand ahnen, daß diese Aktien von dem Bankkrach mitgerissen würden. Jetzt ist die alte Dame ganz verzweifelt und überschüttet sich mit Selbstvorwürfen. Du kannst dir denken, daß ich sie zu trösten versuchte. Trotzdem müssen wir die Tatsache ins Auge fassen, daß du von heute an ebenso unbemittelt bist, wie vor dem Tag, an dem du deine Großeltern trafst… Ich kann dir das nicht verheimlichen. Deine Großmutter bat mich selbst, es dir mitzuteilen. An deiner Stelle würde ich ihr sofort einen wirklich schönen Brief schreiben und ihr für alles danken, was sie für dich tat und tun wollte. Daß es umsonst war, ist nicht ihre Schuld.”

Bibi starrte ihren Vater an. Er redete ja fast wie ein Pastor. Sie verstand zwar ganz gut, um was es sich handelte, aber sie konnte es nicht gar so tragisch nehmen: „Ach was, Paps, ich schlag’ mich schon durch. Ich kann ja zu einem Anstreicher oder Maurer in die Lehre gehen und dann Malerin oder Architektin werden. Weißt du, ich möchte furchtbar gerne Kirchen bauen, Theater und… vielleicht sogar ein Stadion für fünfzigtausend Menschen. Valborg sagt, wenn man nur seine zwei Hände hat und etwas Grütze im Kopf, so kann einem nichts passieren. Und ich finde, Valborg hat recht. Meinst du nicht auch?”

„Natürlich kann jeder normale Mensch sich das tägliche Brot verschaffen, wenn er sich nicht scheut, bei jeder Arbeit zuzugreifen. Aber darum handelt es sich augenblicklich nicht. Deine Großmutter bat mich inständigst, dafür Sorge zu tragen, daß du dich der Landwirtschaft widmest, damit du doch vielleicht einmal Klinteborg verwalten kannst, wenn es auch mit der Übernahme noch lange Zeit hat. Könntest du dir das vorstellen? Ich meine natürlich, wenn du mit der Schule fertig bist. Es würde mich interessieren, wie du prinzipiell zu dem Vorschlag stehst. Denk drüber nach und überschlaf es einmal. Denn wenn dir deine Zeichenkunst zu sehr am Herzen liegt, so will ich dich nicht daran hindern. Andererseits könnte ich mir vorstellen, daß du Landwirtschaft studierst und dich im Nebenberuf mit Zeichnen beschäftigst…”
Bibi sah sich schon als Volontärin auf einem großen Gut mit hohen Stiefeln durch die frisch gepflügten Äcker stampfen, daß ihr die nasse Erde um die Ohren flog. Warum nicht, wenn Großmutter es sich so sehr wünschte? Vielleicht lebt sie nicht mehr lange.

Sie legte ihrem Paps die Arme um den Hals: „Du, ich habe eine Idee!”

„O Gott, o Gott, ich zittere vor deinen Ideen.”
„Es ist aber wirklich eine gute Idee. Du kannst es mir glauben. Ich möchte nämlich mit meiner Konfirmation nicht warten, bis ich siebzehn bin. Wozu? Ich möchte mit fünfzehn konfirmiert werden und dann gleich auf das Land hinaus.”
„Ich fürchte, daß du dann zu jung sein wirst. Du hast ja auch noch kaum was gelernt. Mir wäre lieber, du hättest erst dein Abitur. Aber… vielleicht hast du recht… Wer weiß, ob noch Zeit dazu ist… Und wenn du eines Tages plötzlich allein stehst …”
„Jetzt hörst du aber auf mit dem Quatsch, ich will das nicht hören!” Bibi hielt Paps die Hand vor den Mund, zog sie aber gleich zurück, um ihm einen Kuß zu geben. „Du hast genau so lange zu leben wie ich und nicht eine Sekunde kürzer. Verstanden!”

„Zu Befehl, meine Gnädigste. Bekanntlich kann man sich das ja ganz nach Belieben aussuchen.”
„Ich werde jetzt sofort einen ellenlangen Brief an Großmutter schreiben. Paß auf, wenn sie den kriegt, dann denkt sie nicht mehr an die scheußlichen Aktien. Mein Wort darauf! Herrgott, ich freue mich ja so rasend auf die Landwirtschaft!”
Und damit war, was Bibi betrifft, die ganze Katastrophe überstanden. 3. Kapitel – Ein wichtiger Beschluß

 

Die Verschworenen sind zu einer geheimen Sitzung einberufen. An der üblichen Stelle, neben dem hohlen Baum, hinter den uralten Steinmalen, in der Nähe des Pulverturms, wo Tag und Nacht eine Schildwache steht, damit nicht jemand ein brennendes Zündhölzchen über das Gitter wirft. Diese Schildwache spaziert auf und ab und darf keine Sterbenssilbe von sich geben, was immer man zu ihr sagt. Bibi hat zwar nicht eigentlich Angst, daß der Pulverturm in die Luft gehen könnte, aber immerhin, ganz ausgeschlossen ist es nicht. Deshalb überläuft sie jedesmal ein kalter Schauer, wenn sie an ihm vorüber muß.

Die Sitzung heute wurde mit ganz besonderer Feierlichkeit angekündigt. Handelte es sich doch um etwas ungeheuer Wichtiges. Bibi benützte das blutrote Briefpapier, das sie zu halbem Preis bei Buchhändler Töde bekommen hatte, als er nach dem großen Bankkrach pleite gegangen war. Sogar dem Postboten war der Brief aufgefallen. Er fragte, ob Bibi vielleicht verlobt sei, da sie nun plötzlich in reines Herzblut getauchte Briefe erhielte. Bibi erzählte ihm jedoch, daß sie den Brief selbst an sich geschrieben hätte. Denn warum sollte sie als Vorsitzende gerade sich selbst als Stiefkind behandeln und nur die andern die schönen roten Briefe bekommen lassen.

Es ist nun ein ganzes Jahr seit der Katastrophe vergangen, und die Welt steht noch immer. Man gewöhnt sich an alles – nur nicht ans dursten, das kann kein Mensch, kein Tier und keine Pflanze auf die Dauer aushalten. Bibi war inzwischen zweimal zu Besuch bei ihrer Großmutter gewesen, die in einem winzigen Häuschen, kaum daß man es Villa nennen konnte, wohnte. Klinteborg ist geschlossen, es sieht unfreundlich aus mit den Läden vor allen Fenstern. Die Leute, die das Gut verwalten, verfügen über alles und geben Großmutter gerade soviel Geld, daß sie nicht Not leiden muß. Wenn Bibi von solch einem Besuch zurückkommt, ist sie jedesmal sehr betrübt, aber man kann ja nicht in alle Ewigkeit trauern, dazu geht weiß Gott zu viel vor auf der Welt.

Bibi ist ungeheuer gespannt auf die Sitzung. Es soll nämlich ein Entschluß gefaßt werden, über den sie noch nicht einmal mit ihrem Paps gesprochen hat. Es handelt sich um die Konfirmation. Kirchlich oder bürgerlich? Und wenn kirchlich, bei welchem Pastor?

Anne Charlotte müßte eigentlich gar nicht bei der Sitzung erscheinen. Denn als Pastorstochter würde sie nicht erst viel gefragt. Sie hat sich mit ihrem Vater zu begnügen und damit Punktum. Sie kommt aber trotzdem, als echte Verschworene. Es schmeckt nach Vogel, sagte die Katze, als sie an einem Federchen lutschte.

Valborg ist entschieden für bürgerlich. Sie kann tun, was sie will, da es ohnehin keine Geschenke und keine Gesellschaft für sie gibt, wo sollten ihre Eltern auch das Geld hernehmen. Auch kommt sie so um den Konfirmationsunterricht herum, was den Vorteil hat, daß sie in der Zeit nach Hause laufen kann, wo es immer alle Hände voll zu tun gibt.
Ulla weiß nicht recht, was sie will. Sie findet es moderner, wenn man nicht zum Pastor geht. Ihr Vater hat erklärt: „Das ist deine Angelegenheit. Wenn du dich aber nicht benimmst, wie andere ordentliche Leute, so kannst du dir deine Armbanduhr mit der Laterne suchen.” Da ist sie denn doch auch wieder für die kirchliche Konfirmation.
Sigrid, der sonst die Zunge eher locker sitzt, ist heute merkwürdig schweigsam. Sie hört nur zu und nickt oder schüttelt den Kopf.

Bibi möchte zu einem Pastor, weil auch ihre Mama von einem Pastor konfirmiert worden ist. Aber wenn die andern mehr für bürgerlich sind, so will sie sich ihnen anschließen.

Man kommt nicht weiter. Schließlich soll abgestimmt werden, auf kleinen Zettelchen, ja oder nein. Da hebt Sigrid den gekrümmten kleinen Finger, ein Zeichen, daß sie etwas Wichtiges zu sagen hat.

„Hat eine von euch den neuen Pastor schon gesehen? Nein? Also, ich sage euch, ich habe ihn gesehen.” Dann macht sie eine Kunstpause, um die Neugier noch zu steigern.

„Was ist mit ihm?”

„Er ist schön wie ein Frühlingstraum. Er sieht aus wie Apollo. Meine Mutter sagt, so ein Organ hat sie noch nie bei einem Pastor gehört.”

„Ich bitte dich. Man geht doch nicht zum Pastor wegen seines Organs. Und wenn er auch ‘schön wie ein Frühlingstraum ist’. Du mit deinem Apollo. Oder meinst du nicht vielleicht den Adonis? Denn der war der Schönste. Immer mußt du dich so wichtig machen.”

Bibi hat den neuen Pastor auch noch nicht gesehen. Aber Jensine ist letzten Sonntag ganz aufgeregt aus der Kirche gekommen: „Der neue Pastor, der schaut aus wie unser Herrgott selber.” Bibi stellte sich den lieben Gott zwar immer mehr wie einen alten Mann mit Vollbart vor, ungefähr so wie den Moses von Michelangelo. Bißchen neugierig wurde sie, aber auch nicht mehr.

In die Kirche ging sie sonst nur zu großen Hochzeiten, wenn es viele Blumen gab, so daß es richtig duftete. Und dann natürlich auch zu Weihnachten zusammen mit Paps. Dann brannte der Weihnachtsbaum auf dem Altar, und der Pastor sprach von dem Jesuskindlein in der Krippe, das klang immer schön, ganz abgesehen von den Weihnachtspsalmen. Dabei ließ es sich so gut an die Geschenke denken, an den Gänsebraten und an die Überraschung für Paps. Und am liebsten war ihr, wenn es noch dazu schneite, so daß man hören konnte, wie die Leute unter dem Kirchtor den Schnee von sich abschüttelten und einander fröhliche Weihnachten wünschten.

Sigrid fährt inzwischen fort: „Ich gehe jedenfalls nächsten Sonntag in die Kirche, um ihn zu hören. Wollt ihr mit? Wir können ja die Abstimmung auf so lange verschieben.”

„Na schön, wie du willst.”

Die Verschworenen begeben sich also am nächsten Sonntag brav und sittsam in die Kirche. Bibi hält es nur noch für wichtig, zu erklären: „Eines sage ich euch, wenn ich mich zu sehr langweile, so geh’ ich wieder.” Anne Charlotte wird blaß vor Entsetzen: „Aber Bibi, ein Pastor sieht die ganze Gemeinde, mein Vater sagt, so was heißt den Gottesdienst entweihen. Wenn man nicht eben augenblicklich ein Kind bekommen soll.”

Die Kirche war so voll, daß man stehen mußte. Zuerst sogar ganz hinten an der Tür. Aber die Verschworenen wären nicht die Verschworenen gewesen, wenn es ihnen nicht gelungen wäre, sich durch die Menschenmenge durchzuschlängeln. Und mit der Zeit standen sie auch wirklich unter der Kanzel.

Bibi schrie beinahe: „Nein, so was! Der Mann da oben sah gar nicht aus wie ein Pastor. Auch nicht wie jemand anderer. Er war ganz was für sich.”

Bibi merkte, daß er gerade auf sie herabsah. Sie senkte den Kopf, starrte vor sich hin. Leider stand sie auf einem Grabstein, der einen alten Priester mit Spitzbart darstellte. Es war ihr nicht angenehm, auf seinen dicken Bauch zu treten, wenn er auch schon längst gestorben und nur mehr aus Granit war. Und zu denken, daß in ein paar hundert Jahren eine andere Bibi dem schönen jungen Pastor auf den steinernen Bauch treten würde … nein, lieber nicht. Sie schielte zu ihm hinauf. Ja wirklich, er sah gerade auf sie. Sie spürte seine Worte auf den Lidern, wenn sie den Blick senkte. Er sprach gar nicht wie ein Pastor, aber auch nicht wie jemand anderer. Es schien, als wäre man allein mit ihm in einem Zimmer. Und nun verstand sie auch, was Sigrids Mutter mit dem Organ gemeint hatte. Obwohl Organ ein scheußliches Wort war, das einen an Lunge, Leber und sonstige Eingeweide denken ließ.

Er hatte nicht nur eine Stimme. Er hatte eine gewaltige Stimme. Ohne zu schreien. Und wie er nur die Worte in den Mund nahm. Behutsam. Bibi versuchte, diese Worte mit dem Finger in der Luft zu zeichnen. Sie sah sie ordentlich vor sich. Man konnte diese Worte nicht vergessen. Sie hafteten im Gedächtnis, aber ganz anders als eine Aufgabe, die man auswendig gelernt hat. Sie waren wie lebende Wesen, die sich weiter bewegten, auch wenn sie längst schon ausgesprochen waren.
Bibi sah verstohlen auf die Freundinnen. Sigrid war unmöglich: sie glotzte dem Pastor einfach ins Gesicht. Anne Charlotte hielt die Hände gefaltet und bewegte die Lippen wie im Gebet. Valborg kniff die Augen zusammen wie geblendet, obwohl kein Sonnenstrählchen durch das Kirchenfenster fiel.

 

Dann war es vorbei. Bibi hatte nicht die geringste Lust, mit den andern zu sprechen, obwohl das nicht so leicht zu vermeiden war.

„Ja, hab’ ich’s nicht gleich gesagt?” Sigrid benahm sich, als hätte sie den Pastor erfunden, als wäre er ihr Privateigentum mit Haut und Haar. So eine Gans. Und als sie jetzt noch aufgebläht hinzusetzte: „Habt ihr gemerkt, wie er die ganze Zeit auf mich geschaut hat”, wurde Bibi rasend. „Du lügst wie gedruckt. Ich könnte dir sagen, auf wen er geschaut hat.”
Valborg sagte: „Seid doch nicht albern. Er hat überhaupt nicht auf eure Seite gesehen…”

„Dann vielleicht auf dich? Auf deine Strähnen?”

Anne Charlotte erwähnte, bescheiden wie immer, er hätte ein einziges Mal auch auf sie gesehen.

„Irgendwo muß er doch seine Augen gehabt haben. Soll er vielleicht mit einer Binde predigen?”

„Wißt ihr was: Ihr benehmt euch wie ein paar dumme Backfische.”

Valborg hatte recht wie immer. Sigrid versuchte deshalb, etwas sachlicher zu werden: „Was ihr beschließt oder nicht, mir ist es jetzt schnuppe. Ich weiß nur eines: zu diesem Pastor gehe ich.”

„Du ganz allein natürlich. Privat. So wie zu einer Klavierstunde. Das könnte dir passen. Aber du wirst dich schneiden, meine Liebe. Wir andern dürfen uns wohl auch unsern Pastor aussuchen.”

Es blieb nicht Zeit zu weitern Diskussionen, da jede einzelne zu Hause zum Mittagessen erwartet wurde. Sie trennten sich, um sich nachmittags bei Bibi zum Tee zu treffen.

Bibi war ganz schwindlig zumute. Wenn sie nur einen Augenblick die Augen schloß, so sah sie den neuen Pastor vor sich auf der Kanzel stehen. Er sah auf sie herab, auf sie allein, als wollte er ihr etwas anvertrauen, was niemand anderer erfahren durfte. Unterwegs malte sie sich einen Pfarrhof aus, mit Schlingrosen über dem Fachwerk. Mitten im Hof stand eine große grüne Pumpe. Weißgescheuerte Fußböden, weiße Mullgardinen, Buchenzweige in riesigen Vasen. Paps wohnte im Dachgeschoß, mit Sonne den ganzen Tag lang. Es gab sicher zwei Zimmer dort oben. Und Paps und er waren vom ersten Tag an Herzensfreunde, sie sagten du zueinander wie zwei Schulkameraden. Und unten wohnte… alle Armen des Kirchspiels kamen jeden Sonntag zum Mittagessen, für die Kinder der Sonntagsschule stand eine ganze Kiste Kuchen bereit, und sooft er einen alten Mann mit den Tröstungen der Religion versehen sollte, wartete sie im Wagen vor dem Hause, bis er mit gefalteten Händen wieder herauskam. Dann wußte sie, daß der Alte mit einem Lächeln um die Lippen steintot in seinem Bette lag.

Sie wollte eben einen Anlauf nehmen, um die Treppe hinaufzuspringen, als ihr Ole plötzlich einfiel. O Gott. Ole würde sicher wütend sein, wenn sie einen Pastor heiratete. Und vor allem würde er sich ärgern, daß der Pastor so unbeschreiblich schön war, so schön, daß man eigentlich zu seinen Füßen sitzen müßte, um ihm das Haar zu salben, so wie diese Marta (oder war es nun die Maria?), die ihre Kochtöpfe vergaß, weil sie auf Christi Worte lauschen mußte. Allerdings, Bibi konnte sich das

„Zu-seinen-Füßen-Sitzen” nur im Dunkel vorstellen. Bei Tag, wenn die Sonne ins Zimmer schien, wäre so etwas doch eher peinlich.

Nur ein Glück, daß die Verschworenen nicht ahnen konnten, was für Zukunftsträume sie da zusammenbraute. Sie sollten es auch weiß Gott nie erfahren.

 

Während Bibi, noch ehe sie zum Bahnhof gelangt war, ihren Pfarrhof schon fix und fertig hatte, war Sigrid längst mit dem königlichen Hofprediger verheiratet, den der König so hoch schätzte, daß er ihn Sonntag für Sonntag zum Mittagessen einlud, mit Gattin natürlich. Ein Hofprediger, der mit dem König verkehrt, muß selbstverständlich auch standesgemäß wohnen. Drei Mädchen mindestens, in schwarzen Kleidern und weißen Häubchen vom frühen Morgen an, da man doch niemals wissen konnte, wann Seine Majestät den geliebten Hofprediger plötzlich zu besuchen wünschte. Und sooft sie Arm in Arm mit ihm auf Langelinie spazieren ginge, würden alle Leute sich umwenden: „Ein schönes Paar!” So schön wie er, würde sie freilich nie werden, aber wenn sie sich die Haare dauerwellen ließe, bei der großartigen Frisörin in der Östergade, von der Mutter immer sprach, und wenn sie ihre Kleider direkt aus Paris kommen ließ, und wenn sie sich ein bißchen schminkte – falls er es gestattete, weil er doch ein Pastor war – so brauchte er sich ihrer nicht zu schämen. Nur müßte sie noch den richtigen Hofknix lernen, bei dem man fast in die Erde versank, indem man mit dem einen Fuß nach hinten auskratzte. Ihre Mutter konnte den Knix, er war gar nicht so schwer, man mußte nur aufpassen, daß man auch wieder anständig in die Höhe kam, ohne an den eigenen Röcken hängen zu bleiben. Aber vielleicht… war er entschlossen, nie zu heiraten. Vielleicht war er ein geborener Asket. Natürlich war er ein Asket. Das sah man auf den ersten Blick. Schön, dann würde sie eben auch eine Asketin werden.

 

Anne Charlotte saß zu Hause vor dem Sonntagsbraten und verschluckte sich beinahe, obwohl sie keinen Bissen im Munde hatte. Sie wurde puterrot. Zu schrecklich, daß sie die ganze Zeit an den neuen Pastor denken mußte. Er würde sie im Leben nie beachten, das wußte sie. Er mochte nur große schöne Damen mit kohlschwarzem Haar und brennenden Augen. Leider. Wenn er jedoch einmal auszog, um die wilden Heiden zu bekehren, und wenn keine andere ihm zu folgen wagte, aus Angst vor Tigern und Giftschlangen, so würde sie einen schwarzen Schleier vor das Antlitz schlagen und sich antragen, ihn zu begleiten. Sie würde sich für die armen Heiden aufopfern und selbstverständlich erst Krankenpflege lernen; denn in den gefährlichen Ländern grassierten sicher Pest und Cholera, Schlafkrankheit und Aussatz. Eines schönen Tages würde sie dann blaß und abgezehrt und mit vierzig Grad Fieber an solch einer Krankheit hoffnungslos darniederliegen. Da käme er dann zur Tür herein, um sich über sie zu beugen, ihre letzten Atemzüge zu belauschen und ihr zuzuflüstern: „Du kannst ruhig sterben. Ich heirate gewiß nicht mehr.”

Anne Charlotte blieb der Bissen, den sie endlich zu sich genommen hatte, im Halse stecken. Sie fühlte sich ersterbend lächeln, während der Todesengel seine schwarzen Schwingen um sie schlug. Hinter dem Sarge ging er, tief erschüttert mit gesenktem Haupt, während die Tränen über seine hohlen Wangen tropften. Nein, es war keine Sache, zu sterben, wenn man wußte, daß er sein ganzes Leben lang trauern und nie mehr eine andere heiraten würde.

 

Ulla bewegte sich heimwärts, indem sie auf einem Bein von einem Pflasterstein auf den andern sprang. Dies war eine alte Gewohnheit von ihr, nur daß sie jetzt bald zu groß für derartige Kindereien war. So oft sie jedoch mit etwas ganz besonders stark beschäftigt war, vergaß sie, daß sie nun beinahe schon als erwachsen galt, und hüpfte wieder wie eine Elster. Auch ihr gefiel der neue Pastor, aber sie träumte weder von Heirat noch von Pfarrhöfen, noch von Heidenbekehrung. Sie grübelte nur darüber nach, ob ein Pastor auch tanzen durfte. Und wenn ja, ob er sich dann nicht ausnahmsweise wie ein vernünftiges Mannsbild kleiden dürfte. Aber nein, das war ihm bestimmt nicht gestattet, wenn es auch nicht gerade eine Todsünde war. Wie hießen übrigens die sieben Todsünden. Sieben waren es bestimmt, viel mehr darüber wußte sie nicht. Geiz gehörte sicher zu ihnen, und geizig war sie nicht, ganz im Gegenteil. Aber Unmäßigkeit? Gehörte Unmäßigkeit nicht auch zu den Todsünden? Wenn man zuviel Kuchen aß oder zu viele unreife Äpfel. Warum das aber wieder gleich eine Todsünde sein sollte? Und dann hieß es noch: du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Esel und Hausfrau. Könnte ihr einfallen. Was sollte sie damit. Übrigens gehörte das zu den zehn Geboten und gar nicht zu den Todsünden. Es war nicht so einfach mit der Religion.

Nach dem Mittagessen setzte sich Ulla an das Klavier. Aber anstatt brav und fleißig die Mazurka von Chopin zu üben, hämmerte sie alle möglichen Foxtrotts, bis ihr Vater die Tür öffnete, um zu fragen, ob sie verrückt geworden sei. Er konnte ja nicht wissen, daß Ulla in Gedanken eben in einem ungeheuren Saal tanzte, dessen Wände nur aus Spiegelglas bestanden, so daß sie sich die ganze Zeit mit dem neuen Pastor sehen konnte, der in vollem Ornat war, ob es sich jetzt schickte oder nicht.

 

Valborg war sich völlig im klaren, daß sie niemals zur Schönheitskönigin ernannt werden würde, sie konnte höchstens eine Prämie bekommen, wenn es einmal eine Konkurrenz für alle Vogelscheuchen der Welt gab. Sie hatte oft genug gehört, daß die Straßenjungen ihr nachriefen: „Haubenstock! Quetschnase!” Und sie guckte lieber nicht in den Spiegel, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Auch erinnerte sie sich an das liebenswürdige Gesellschaftsspiel bei Sigrid sie war fest entschlossen, ihren Kindern solche Gesellschaftsspiele einmal zu verbieten wobei sie allein auf einem Stuhl sitzen mußte, während die andern erstaunte Fragen stellten: Ich möchte nur wissen, ob sie sich morgens mit einer Heugabel kämmt… Ich möchte nur wissen, wie sie es anstellt, damit es ihr nicht in die Nase hineinregnet… Und ähnliches mehr. Sie war und blieb nun einmal zum Verzweifeln häßlich. Noch ein Glück, daß sie nicht auch blatternarbig und buckelig herumlief. Wenn man jedoch mit der Zeit eine weltberühmte Schauspielerin wurde, war das alles nicht so gefährlich. Dann wagte niemand mehr, die Nase über sie zu rümpfen. Eine Schauspielerin kann nämlich häßlich sein, wie der Teufel, das ist ganz gleich, wenn sie sich darauf versteht, die Leute zum Heulen zu bringen. Oder zum Lachen. Valborg konnte Sprache und Gang von einem jeden imitieren, sie mußte sich nur richtig in ihn hineindenken, dann kam es ganz von selbst, ohne irgendwelche Anstrengungen.

Mit dem häßlichen jungen Entlein war es ja auch nicht viel anders gewesen. Eines Tages, hast du nicht gesehen, war es ein prächtiger junger Schwan. Und wer weiß, vielleicht würden ihre Schweinsäuglein plötzlich zu wachsen beginnen und groß werden wie Teetassen, vielleicht erwachte sie plötzlich mit schneeweißen Pfötchen und Fingern wie Blütenstengel.
Es gab ja auch Damen mit Nasen wie ein Steckkontakt, die sie auf echt römische operieren ließen, aber das kostete sicher eine wahnsinnige Menge Geld. Damit war es bei ihr auch nicht weit her. Daß sie aber eine berühmte Schauspielerin wurde, war nun einmal sicher. Wenn sie dann von ihrer großen Auslandstournee nach Hause kam, stand die ganze Stadt Kopf. Man sprach nur mehr von dieser seltsamen Erscheinung, von der niemand ahnte, woher sie stammte. Denn das Kroppzeug hatte strengsten Befehl bekommen, dicht zu halten. Natürlich stand sie auch in allen Zeitungen, der Pastor las über sie und bekam Lust, sie in Romeo und Julia spielen zu sehen. Wie er dann im Theater sitzt und sich die Julia betrachtet – in hellrotem Samt mit Goldborken – geht ihm plötzlich ein Licht auf: „die kenne ich doch”. Er hört ihre Silberstimme, er ist ganz benommen. Wenn sie auch häßlich wie der Teufel ist, so ist sie doch verflucht interessant – das heißt, ein Pastor sagt niemals „verflucht”. Er kann den Blick nicht von ihr wenden, sie spürt es, und von nun an spielt sie überhaupt nur mehr für ihn. Sie verwandelt sich, sie spielt nicht mehr Julia, sie spielt nur sich selbst, so wie sie damals war, als ihr die Strähnen über die Stumpfnase hingen. Das Publikum klatscht wie besessen. Die Billette haben mindestens zehn Kronen das Stück gekostet, aber die Leute hatten die halbe Nacht lang Schlange gestanden, um nur einen Stehplatz zu bekommen. Man wirft ihr Blumensträuße zu mit feinen Seidenbändern und Visitekarten mit Goldrand. Sie beachtet das kaum, sondern watet durch Rosen zu ihrem Auto, während das Publikum ihr nachströmt, um nur noch einen letzten Blick von der – Donnerwetter, wie sagt man nur, ja richtig, von der Diva zu erhaschen. Die Diva wirft sich erschöpft in ihren Wagen. Da sieht sie den Pastor mitten im Gedränge. Er wagt es nicht, den Blick zu heben und sie anzusprechen. Sie aber winkt ihm und nimmt ihn zu sich in ihr vornehmes Auto und fährt zu ihrem Hotel. Der Kellner fragt: „Was wünscht Frau Diva zum Abendessen?” „Na, bringen Sie uns mal Austern mit Champagner…”

Valborg kommt nicht weiter mit ihrem Zukunftstraum. Denn im selben Augenblick verabreicht sie sich eine knallende Ohrfeige. „Idiot, Trottel! Eingebildete Gans! So eine wie du taugt höchstens zum Windelwaschen. Schauspielerin! Diva! Ja freilich! Du kannst froh sein, wenn du in einem Laden stehen darfst oder am Ende gar in einem Kontor…”
Nach dem Mittagessen beginnt Valborg als wohlverdiente Strafe und obgleich es Sonntag ist, den Herd zu scheuern. Nachher kommt die Kellertreppe dran. So was ist gesund, da vergehen einem die Mucken…

 

Punkt fünf erscheinen die Verschworenen bei Bibi. Sie bekommen Tee und Jensines unvergleichliche Cremeschnitten, auf die Nachtwächter Mörup so versessen ist. Die Verschworenen sind merkwürdig sanft und friedlich. Jede schämt sich in ihrem Herzen für den grausigen Kitsch, den sie sich heute ausgedacht hat.
Man spricht von allem möglichen, bis Sigrid so nebenbei bemerkt: „Wollen wir nicht endlich über die Konfirmation abstimmen. Dann sind wir es los und brauchen nicht mehr daran zu denken.”
Jede kritzelt was auf ihren Zettel mit einem möglichst gleichgültigen Gesicht. Erst handelt es sich um kirchlich oder bürgerlich. Auf jedem Zettel steht: kirchlich. Dann um den Pastor. Auf allen fünf Zetteln steht: der neue Pastor.
Anne Charlotte hat mitgestimmt. Obwohl sie nur zu genau weiß, daß sie nie die Erlaubnis bekommen wird.

„Versuch es mal mit Tränen”, meint Valborg. Anne Charlotte schüttelt den Kopf: „Das hab’ ich schon, ehe ich herkam. Aber Mutter sagte nur, ich sollte zu Hause bleiben und ein Kopfwehpulver nehmen.”

„Dann droh’ ihnen, daß du ins Kloster gehst! Du wirst sehen, das nützt!” Bibi war ganz begeistert von dieser ihrer Idee. Anne Charlotte griff mit dem gekrümmten kleinen Finger nach Bibis kleinem Finger, was gleichbedeutend war mit: ich schwöre.

„Ja, ich werde sagen, daß ich ins Kloster will. Wenn sie merken, daß es mein heiliger Ernst ist, werden sie schon klein beigeben …”

„Und wenn sie es dann doch nicht tun?” Ulla war skeptisch.

„Dann nehme ich natürlich den Schleier und werde Nonne.”

„Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Außerdem gibt es bei uns doch nur in den katholischen Krankenhäusern Nonnen. Das wäre was für dich. Du fällst in Ohnmacht, wenn du nur einen aufgeschnittenen Bauch siehst.”
Anne Charlotte sieht tief gekränkt aus: „Du mußt immer gleich was Ekelhaftes sagen. Wenn ich geschworen habe, daß ich Nonne werde, so werde ich natürlich Nonne. Ich kann ja auch nach Frankreich reisen oder nach Italien, dort wimmelt es von Nonnen, da muß man gar nicht erst in ein Krankenhaus.”

Bibi nickt: „Bleib du nur fest. Ich nehme Gift darauf, daß sie dann nachgeben müssen und du dir deinen Pastor aussuchen kannst.”

Vor Bibi lagen ein paar Bogen Papier, die zerschnitten werden sollten, falls man noch weiter abstimmen müßte. Bibi hielt einen Bleistift in der Hand, und dieser Bleistift begann, kaum daß sie es selbst merkte, plötzlich darauflos zu zeichnen.
Ulla sagte: „Herrgott, wenn wir es nur so deichseln könnten, daß wir fünf allein zum Pastor gehen. Ganz privat, meine ich.”
„Bei dir ist wohl eine Schraube los. Privaten Konfirmationsunterricht gibt es nur bei Prinzen und dergleichen. Du natürlich möchtest am liebsten mutterseelenallein bei ihm sitzen.”

„Da würde er sich aber schönstens bedanken. Was soll er mit dir? Sich zu Tode langweilen?”

„Keift nicht schon wieder wie die Marktweiber. Was soll das. Ihr wißt doch ganz genau, daß wir nicht die einzigen sein werden. Und daß er keine Ausnahmen machen darf. Selbst wenn er will.”

„Wieso, warum nicht? Es gibt doch Unterschiede…”

Bibi zeichnete jetzt wie wild. Es wollte nicht recht werden. Sie sah ihn zwar vor sich, wie er leibte und lebte, aber die Finger waren störrisch und der Bleistift machte Mätzchen. Und nun sagte Sigrid auch noch großartig: „Ich könnte mir denken, daß er doch eine Ausnahme macht.”

Bibi war so wütend über den widerspenstigen Bleistift, daß sie sich nicht beherrschen konnte: „Mit dir einmal bestimmt nicht. Er hat doch Augen im Kopf.”

Sigrid war plötzlich ganz Dame: „Du scheinst zu vergessen, daß ich dein Gast bin.”
Das saß. Gastfreundschaft war eine heilige Pflicht, sogar bei den „Wilden.” Und außerdem sagt man so etwas nicht einmal zu seinem ärgsten Feind. Bibi wurde puterrot: „Du verstehst auch keinen Spaß.” Und sie schob Sigrid rasch die Schüssel mit den Cremeschnitten hin, um sie zu besänftigen.

Ulla guckte Bibi über die Schulter: „Das schaut ihm überhaupt nicht ähnlich.”

„Woher weißt du denn, wer es sein sollte?”

„Das sieht man auf den ersten Blick. Aber er sieht trotzdem ganz anders aus. Viel, viel mehr… geheimnisvoll. So wie einer, der eben in Trance fällt und in die Zukunft schaut…”

„Quatsch keinen Unsinn. Es hat dich niemand um deine Kritik gebeten. Oder kannst du es vielleicht besser?”

„Warum nicht?”

„Dann bitte. Hier hast du Papier und Bleistift. Wollen sehen, was du zusammenschmierst.”

Valborg beugte sich vor und griff nach dem Papier. „Das in der Mitte gefällt mir riesig. Da sieht er aus wie ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut. Schneide es bitte aus für mich.”
Anne Charlotte meldete sich jetzt auch: „Bitte, Bibi, schenk mir das mit den gefalteten Händen. Ich möchte es über meinem Bett haben.”

„Und ich will das, wo er lächelt.”

„Nein, nein, das will ich. Ulla hat doch eben erst gesagt, daß es ihm gar nicht ähnlich ist.”

„Ich habe ein ganz anderes gemeint. Und ich will nun einmal das mit dem Lächeln. Ich habe es zuerst verlangt, nicht wahr Bibi?”

„Sei doch nicht immer gleich so gierig! Dann nehme ich in Gottesnamen das mit den geschlossenen Augen, da sieht er so besonders vornehm aus…”

Bibi schrieb unter jede Zeichnung den Namen der Besitzerin. Sie konnte ja noch hunderte nachliefern. Aber die allerschönsten wollte sie für sich selbst behalten, und die hatte sie noch gar nicht gezeichnet. Da sollte er nämlich menschlich und vornehm und mild und streng auf einmal aussehen, so daß alle Leute seinen Worten lauschten und dabei wußten, daß er ganz anders war als alle andern.

„Weiß eine von euch, ob ein Pastor tanzen darf?”

„Bist du verrückt?”

„Warum denn nicht?”

„Mein Vater tanzt aber niemals.”

Sie redeten alle aufeinander los, daß man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Bibi war sich nicht im klaren. Es konnte doch keine Todsünde sein, „aber ganz schicklich erschien es ihr auch nicht.

„Geht dein Vater auch nicht ins Wasser?”

Anne Charlotte weinte beinahe: „Mein Vater nimmt jeden Samstag ein Bad im Krankenhaus. Aber er sagt, es paßt sich nicht für einen Priester, daß er sich vor andern Menschen auskleidet.

„Ein Glück, daß mein Vater kein Pastor ist. Er schmeißt alle Kleider von sich, wenn er nur einen Ententümpel sieht. Er muß überall versuchen, ob das Wasser auch wirklich naß ist…”
Bibi sagte nach langem Nachdenken: „Ich weiß nicht warum, aber ich hab’ es gerne, wenn ein Pastor ein bißchen anders ist als die übrigen Menschen…”

„Dann zeichne ihn doch gleich mit einem Paar Engelsflügeln.”

„Warum nicht… wenn ich Lust dazu habe. Ich will aber nicht.”

„Herr des Himmels, es ist ja gleich sieben, und wir sind heute bei Bürgermeisters eingeladen.”

Damit war das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch gegeben. Noch lange, nachdem die Verschworenen gegangen waren, saß Bibi über ihren neuesten Zeichenstudien. Aber das, was sie wollte, glückte ihr nicht. Bis sie es mit einem Seufzer aufgab:

„Wenn ich eine richtige Künstlerin wäre, dann…”

Sie stellte fest, ein für allemal, daß sie niemals eine „richtige Künstlerin” werden würde.

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Publiziert am 01.04.2021
Name der Autorin: Karin Michaëlis (1872 – 1950)
Bibi – Leben eines kleinen Mädchens
Band 6: Bibi lernt Landwirtschaft
Herausgeber und Vorwort: Thomas Horwath
Illustration & Cover: Judith Reßler
https://www.judithressler.at/
ISBN – 978-3-903037-46-5

Die Ausgabe dieses E-Books: Bibi – Leben eines kleinen Mädchens, Band 6: Bibi lernt Landwirtschaft, bezieht sich auf die Originalausgabe des Rascher Verlages aus Zürich, aus dem Jahr 1938.

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